Filmfest CannesGerichtsdrama von Justine Triet gewinnt – erst die dritte Goldene Palme für eine Frau
Die Festspiele an der Croisette präsentierten den besten Jahrgang der letzten Zeit. In den beiden Topfilmen spielt die gleiche Schauspielerin die Hauptrolle.
Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller ist die Königin von Cannes: Sie spielt eine Hauptrolle in «The Zone of Interest» von Jonathan Glazer, der zum Abschluss des Festivals den grossen Jurypreis gewann. Und sie dominiert das Gerichtsdrama «Anatomie d’une chute» von Justine Triet, die mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden ist. Die Französin ist erst die dritte Regisseurin, die in 76 Jahren Festivalgeschichte diesen Preis nach Hause nehmen konnte.
Aki Kaurismäki, Ken Loach, Wim Wenders, Nanni Moretti – auf den ersten Blick schien das Programm von Cannes von Namen dominiert zu sein, die schon im letzten Jahrhundert gross waren. Aber die Ausgabe 2023 bot Erfrischendes von Regisseurinnen und Regisseuren aus der ganzen Welt – und auch die alten Meister lieferten. Hier eine Auswahl aus dem reichhaltigen Programm.
«Anatomie d’une chute»
Ein Mann liegt tot im Schnee. Was ist geschehen? Ist er beim Renovieren des Chalets in den Bergen von Grenoble aus dem Fenster gefallen? Hat er sich umgebracht? Oder hat ihn seine Frau, eine erfolgreiche Schriftstellerin, gar runtergeschubst?
«Anatomie d’une chute» nennt die französische Filmemacherin Justine Triet («Sybil») ihren Film. Und tatsächlich geht es im Prozess, welcher der Frau gemacht wird, um die Hintergründe dieses Sturzes. Aber seziert wird im Grunde genommen die Beziehung des Paares. Zentrale Figur ist dabei der nach einem Unfall erblindete Sohn, dessen Aussage vor Gericht alles ändern könnte. Das ist komplex und nervenaufreibend – obwohl es aus nichts anderem schöpft als aus dem Alltag einer Beziehung.
Besonders: Die Hauptrolle im französischen Film wird, wie in «The Zone of Interest», von der deutschen Schauspielerin Sandra Hüller gespielt. In den meisten Szenen spricht sie englisch.
«The Zone of Interest»
Auschwitz im Kino? Funktioniert normalerweise nicht, der Schrecken der Konzentrationslager lässt sich kaum darstellen. «The Zone of Interest» aber geht einen anderen Weg. Gezeigt wird die Familienidylle des Lagerkommandanten, der sich mit seiner Frau gleich neben den KZ-Mauern ein häusliches Paradies einrichtet: Garten, Kinder, ein kleiner Pool. Nur aus der Ferne sind Schreie und Schüsse von drüben hörbar.
Das ist ein Film, der neue Massstäbe setzt. Realisiert hat ihn der britische Regisseur Jonathan Glazer, der vor zehn Jahren den Science-Fiction-Film «Under the Skin» mit Scarlett Johansson als Alien präsentierte. Seither arbeitet er am Konzept des neuen Films, jede Bewegung, jedes Bild, jeder Ton ist durchdacht. Ja, der Film wirkt kalt, wie sollte er anders, bei diesem Thema? Aber er fährt trotzdem ein wie kein anderer aus Cannes.
Besonders: «The Zone of Interest» basiert lose auf dem gleichnamigen Buch von Martin Amis über einen Auschwitzkommandanten. Der britische Autor starb am 19. Mai – dem Tag der Premiere des Films in Cannes.
«Monster»
Der Japaner Hirokazu Kore-eda ist ein Habitué im Wettbewerb von Cannes. Mit «Shoplifters» gewann er vor vier Jahren die Goldene Palme, für «Broker» gabs letztes Jahr den Preis für den besten Hauptdarsteller. Der neue Film heisst «Monster» und ist noch besser als diese Vorgänger.
Erstmals seit seinem Kinodebüt «Mabaroshi» (1995) hat Kore-eda kein eigenes Drehbuch verfilmt, dieses stammt vom TV-Autor Yuji Sakamoto. Es ist eine komplexe Geschichte, in der ein Jugendlicher im Mittelpunkt steht, der Schwierigkeiten in der Schule hat. Zu sehen ist das aus drei verschiedenen Perspektiven, derjenigen der Mutter, des Lehrers und des Kindes, eine Erzählweise, die an den japanischen Klassiker «Rashomon» erinnert.
Kore-eda macht daraus aber etwas sehr Eigenes, wie immer besticht sein Umgang mit Kindern im Film, die Wahl seiner Schauplätze sowie die Stimmung, die «Monster» verbreitet. Am Ende sind nicht alle Rätsel gelöst. Macht nichts, das gibt Lust, den Film gleich wieder zu sehen.
Besonders: Hirokazu Kore-eda hat bei diesem Film mit einem anderen japanischen Meister gearbeitet – die Musik stammt von dem im März verstorbenen Komponisten Ryuichi Sakamoto.
«La Chimera»
Ausgraben, ausgraben. «La Chimera» ist die Geschichte einer Bande von «Tombaroli», also Menschen, die etruskische Gräber plündern und die Kostbarkeiten dann verscherbeln. Es sind aber nicht nur Täter, sondern auch Opfer einer Gesellschaft, in der sich alles zu Geld machen lässt, es aber für viele nicht genug davon hat.
Die Regisseurin Alice Rohrwacher ist seit ihrem Kinoerstling «Corpo celeste» eine Spezialistin für dieses andere Italien, mit Randständigen und Gauklerinnen. Ihr eigener Blick schrammt immer nahe am Kitsch vorbei, ohne die Grenze zu strapazieren. Die neue italienisch-schweizerische Koproduktion ist besonders gut gelungen, nicht zuletzt wegen ihrer Symbolkraft und ihrer Tonspur voller Überraschungen.
Besonders: Alba Rohrwacher, die Schwester der Regisseurin, hat in «La Chimera» nur einen kleinen, aber wichtigen Gastauftritt. Genauso wie eine andere bekannte Schauspielerin: Isabella Rossellini.
«Fallen Leaves»
Wann spielt dieser Film? Aki Kaurismäkis Helsinki sieht noch genauso aus wie in den 1980er-Jahren, als die Karriere des finnischen Regisseurs begonnen hatte. Wäre in den Radionachrichten nicht vom Ukraine-Krieg die Rede, käme bald der Verdacht auf, die Zeit sei stehen geblieben.
Kaurismäki erzählt in «Fallen Leaves» wie immer eine einfache Liebesgeschichte. Eine Frau, ein Mann, alles scheint bestens zu sein, aber dann können sie nicht zusammenkommen: Missverständnisse, Alkohol, die Umstände. Aber Aki wäre nicht Kaurismäki, wenn das nicht in ein Happy End münden würde. «Sehr unrealistisch», wie der Regisseur selber sagen würde, aber auch sehr ergreifend.
Besonders: So richtig beginnt die Liebe der beiden im Kino mit einem Zombiefilm. Trash? Nein, es läuft natürlich die gehobene Untoten-Variante «The Dead Don’t Die» des Kaurismäki-Bewunderers Jim Jarmusch.
«May December»
Als «sehr meta, meta, meta» bezeichnet Hauptdarstellerin Natalie Portman im Interview ihre Erfahrung mit dem neuen Film von Todd Haynes. Schliesslich spielt die Schauspielerin eine Schauspielerin, die bei einer von einer Schauspielerin – Julianne Moore – gespielten Person recherchiert. Diese stand mal im Scheinwerferlicht der Boulevardpresse, weil sie als Lehrerin eine Beziehung mit ihrem 13-jährigen Schüler eingegangen war.
Todd Haynes, der grosse unabhängige US-Filmer, kombiniert in «May December» Motive von Ingmar Bergman («Persona») mit solchen des Trivialkinos. Es ist eine herrlich schräge Mischung, aber am meisten Spass macht tatsächlich das Spiel der Hauptdarstellerinnen.
Besonders: «May December» bezeichne im Englischen die Beziehung zwischen einer älteren und einer jüngeren Person, erklärte Todd Haynes an der Pressekonferenz. In anderen Sprachen gebe es wohl diesen Ausdruck nicht, ergänzte er. Um dann maliziös hinzuzufügen, französisch vielleicht doch auch: Macron.
«Kuru Otlar Üstüne»
Der Film beginnt im Schnee, und das ist typisch. Der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan lässt seine Filme gerne im Winter spielen. In «Kuru Otlar Üstüne» ist die Landschaft weisser denn je, Schauplatz ist ein abgelegenes Dorf in Anatolien, wo ein Lehrer aus Istanbul seinen Pflichtdienst leistet.
Der Mann im Zentrum ist eine unangenehme Figur, er leistet sich Übergriffe gegenüber seinen Schülerinnen, straft Feinde, aber auch Freunde mit zynischer Verachtung. Zuweilen steht er der Geschichte, die um ihn erzählt wird, fast im Wege. Denn Nuri Bilge Ceylan liefert im Grunde genommen ein feines Geflecht von Gedanken und Dialogen zu Themen wie Schuld und Verantwortung. Das ist Absicht, und doch liegt die Versuchung nahe, dem Lehrer «Halt das Maul!» zuzurufen.
Besonders: Der Film dauert 3 Stunden und 17 Minuten, er war damit der längste Spielfilm des Cannes-Wettbewerbs. Wirklich kurz fasste sich nur Aki Kaurismäki: 81 Minuten.
«L’été dernier»
Ein zweites Mal «Mai Dezember»: Eine erfolgreiche Anwältin hat ein Verhältnis mit dem 17-jährigen Sohn ihres Mannes aus erster Ehe. Wie kommt sie aus dieser Affäre wieder heraus?
Das gabs schon einmal. «L’eté dernier» ist das Remake eines dänischen Films von 2019, der unter seinem internationalen Titel «Queen of Hearts» auch international Karriere machte. Doch die unerschrockene französische Regisseurin Catherine Breillat setzt den Stoff viel kompromissloser um und vermeidet das wehmütige Ende des Originals. Sehr böse und sehr konsequent.
Besonders: Regisseurin Breillat schrieb mit 17 Jahren einen Roman, der als nicht jugendfrei eingestuft wurde. Die Sexualität steht immer wieder im Zentrum ihres Werkes, in «Romance» (1999) spielte zum Beispiel Pornodarsteller Rocco Siffredi eine Hauptrolle.
«The Old Oak»
Ein Ken-Loach-Film wie eh und je: Der zweifache Gewinner der Goldenen Palme erzählt eine Geschichte aus Nordengland: In einem ehemaligen Minenarbeiterdorf, in dem viele Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, werden Flüchtlinge aus Syrien untergebracht. Die Konflikte sind vorprogrammiert.
Die alte Eiche im Titel ist kein Baum, sondern das Pub im Dorf, um das sich die Konflikte drehen. Im Zentrum stehen der Wirt der Kneipe und eine junge Fotografin aus Syrien. Ken Loach erzählt konsequent engagiert, aus seiner solidarischen Haltung heraus. Das Ende von «The Old Oak», den er als seinen letzten Film bezeichnet, ist aber optimistischer als auch schon.
Besonders: Letzter Film? Ken Loach hat dies auch schon bei den Vorgängern «I, Daniel Blake» (2016) und «Sorry We Missed You» (2019) gesagt. Aber dieses Mal scheint es ihm ernst zu sein. Wer will es ihm verargen? Schliesslich wird er im Juni 87 Jahre alt.
Alle Filme sollten im Lauf des Jahres in die Schweizer Kinos kommen.
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