Westschweizer TV deckt auf16 sexuelle Belästigungen und Übergriffe am Genfer Unispital
Die Leiterin der Kinderchirurgie am Unispital Genf schildert, sie sei unter Zwang berührt und geküsst worden. Schweizweit gibt es Hunderte von Belästigungsfällen im Gesundheitswesen.
![Gebäude des Hôpitaux universitaires de Genève mit Logo und Schriftzug im Januar 2023.](https://cdn.unitycms.io/images/3cGy70PYago9pA5lIFU8aM.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=QzaIbfbum_M)
- Die Sendung «Temps Présent» des Westschweizer Fernsehens prangert die ungestrafte Belästigung in Westschweizer Spitälern an.
- Die Leiterin der Kinderchirurgie am Universitätsspital Genf (HUG) sagt, sie sei berührt und gewaltsam geküsst worden.
- Das Unispital hat sein Engagement gegen Belästigung bekräftigt.
- Sechzehn Fälle wurden identifiziert, in den Jahren 2023 bis 2024 kam es am Unispital in Genf zu sieben Entlassungen.
Die Sendung «Temps Présent» des Westschweizer Fernsehens deckte letzte Woche auf, dass Chirurgen und Abteilungsleiter in Westschweizer Spitälern sexuelle und psychische Belästigung praktizieren: von obszönen Bemerkungen über Berührungen bis zur sexuellen Erpressung – bisher ohne strafrechtliche Konsequenzen. Denn Beschwerden werden laut der Untersuchung von RTS kaum untersucht. Besonders betroffen sind die chirurgischen Abteilungen, ein sehr von Wettbewerb und starrer Hierarchie geprägtes Milieu.
Mehrere Opfer haben sich für die TV-Sendung bereit erklärt, als Zeugen aufzutreten, darunter Barbara Wildhaber, Leiterin der Kinderchirurgie am Universitätsspital Genf (HUG). Die führende Spezialistin für Lebertransplantationen bei Kindern erklärt, dass sie dreimal «Szenen erlebt hat, in denen ich ohne meine Zustimmung berührt oder geküsst wurde; allein in einem Büro mit einem Herrn auf einer in den meisten Fällen höheren Hierarchiestufe. Das letzte Mal war es ein erzwungener Kuss vor vier Jahren.»
«Nur eine Frau, die man erniedrigen kann»
Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits Abteilungsleiterin. «Es ist extrem erniedrigend. Selbst in dieser Position bin ich nicht davor gefeit, einfach eine Frau zu sein, die man erniedrigen kann, mit der man die Grenzen überschreiten kann», erzählt sie RTS mit Tränen in den Augen. Sie habe diese Fälle nie angezeigt: «Ich hatte meine Gründe. Wenn man aussagt, verlängert man die Demütigung. Und ich bin überzeugt, dass man mir nicht geglaubt hätte.» Heute spricht sie, um das zu tun, was sie allen ihren Kolleginnen rät: die Übergriffe zu melden.
Zwar bekräftigen die Verantwortlichen am Departement für Medizin am HUG in einer internen Mail für ihre Teams ihr Engagement gegen jede Form von Gewalt und weisen auf die internen Möglichkeiten hin, die zur Verfügung stehen, um unangemessenes Verhalten zu melden. Aber beabsichtigt das Genfer Universitätsspital auch, nach der Aussage von Professorin Wildhaber eine Untersuchung einzuleiten? Nicolas de Saussure, Leiter der Abteilung für digitale Kommunikation und Medien der Institution, verneint dies «in Absprache mit der Professorin». Doch die Direktion «bleibt aufmerksam und wird Massnahmen ergreifen, wenn ihr konkrete Fakten vorliegen».
Weiter heisst es, die HUG «kommentiere keine persönliche Situation» und nehme keine Stellung dazu, ob der Täter, der bei Wildhaber den Kuss erzwungen habe, noch im Krankenhaus arbeite. Toleriert das Spital, dass ein Täter ungestraft weiterarbeiten und möglicherweise weitere Opfer angreifen kann? Das HUG «setzt auf die Sensibilisierung des Personals für diese Thematik, was durch die Medien gefördert wird», antwortet der Verantwortliche.
Eine Meldestelle und eine Sensibilisierungskampagne
De Saussure zählt die Massnahmen auf, die in den letzten Jahren ergriffen wurden: Ende 2024 wurde das Warnsystem von einer spezialisierten Firma bewertet. «Diese hat bestätigt, dass das System den Standards entspricht.» Zudem wurde auf der Startseite des Intranets ein Meldeverfahren eingerichtet, das die Anonymität gewährleistet, und es wurden Sensibilisierungskampagnen durchgeführt. Zuletzt finden seit 2024 Mitarbeiterschulungen mit Amnesty International und obligatorische Onlineschulungen zur Prävention von sexueller Belästigung statt.
Neben einem neuen Team für Persönlichkeitsschutz hätten die HUG bereits 2021 ein Programm für Vielfalt, Gleichheit und Integration initiiert, das eine Telefonhotline, einen sicheren E-Mail-Kontakt und eine Kommission zur Bearbeitung von Belästigungsbeschwerden umfasst.
Sieben Entlassungen und vier Verweise
Laut «Temps Présent» ist speziell die Chirurgie von Belästigungen betroffen. Werden in den Abteilungen besondere Massnahmen ergriffen? «Seit mehreren Jahren erhalten alle Studierenden und Lehrenden der Abteilung für Chirurgie einen Brief mit Informationen über die Problematik der Belästigung und Diskriminierung. Seitdem hat die Abteilung keine Beschwerden mehr zu diesem Thema erhalten.»
Bekannt sind für die Jahre 2023 und 2024 insgesamt 16 Belästigungssituationen am Genfer Spital. Vier Verweise und sieben Entlassungen wurden mit dieser Begründung ausgesprochen. Das Spital mit 13’000 Mitarbeitenden gibt nicht an, ob und wie viele Fälle Ärzte betrafen. Zudem registriert die Gruppe für Persönlichkeitsschutz zwischen 2017 und 2024 15 Fälle, in denen es angeblich um sexuell motivierte Verhaltensweisen oder sexuelle Belästigung ging, «aber die Personen, die sich gemeldet haben, haben keinen Antrag auf Untersuchung gestellt».
Nicolas de Saussure berichtet weiter, dass in den letzten zwei Jahren ein Anstieg der Ausschreibungen zu verzeichnen war, «der sich insbesondere durch Sensibilisierungskampagnen und eine bessere Sichtbarkeit der Melderessourcen erklären lässt». Er war jedoch nicht in der Lage, Zahlen für die Zeit vor 2023 zu nennen, da damals eine zentrale Erfassung fehlte.
Über 250 Übergriffe und Belästigungen in der ganzen Schweiz
In einer anonymen Umfrage des Recherchedesks und des Datenteams von Tamedia im Dezember 2021 in allen Landesteilen der Schweiz berichteten 252 Medizinerinnen, dass sie sexuelle Belästigungen oder Übergriffe bei der Arbeit erlebt haben. In Sachen Sexismus gaben noch mehr Betroffene – nämlich 398 Ärztinnen – an, in ihrem Arbeitsumfeld bereits ein- oder mehrmals Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts erfahren zu haben.
Übersetzt aus dem Französischen von Reto Meisser.
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