Interview mit ÖV-Verbandschef«Gegen eine Zertifikatspflicht würden wir uns wehren»
Ueli Stückelberger, Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr, erklärt, warum seine Branche mehr Steuergeld braucht und wie sie mit der Pandemie umgeht.
Am Montag befindet der Nationalrat über 4,35 Milliarden Franken, mit denen der regionale Personenverkehr in den kommenden vier Jahren finanziert werden soll. Der Verpflichtungskredit ist 250 Millionen Franken höher als bisher. Ueli Stückelberger, Direktor des Verbandes Öffentlicher Verkehr, erklärt sich dazu.
Der regionale Personenverkehr soll eine neue Milliardenspritze bekommen, dabei hatte das Parlament vor zwei Jahren bereits 12 Milliarden für die Infrastruktur beschlossen. Wozu braucht es diese gigantischen Summen?
Es stimmt, es ist viel Geld. Das zeigt aber die wachsende Bedeutung des öffentlichen Verkehrs. Im regionalen Personenverkehr zahlen die Kundinnen und Kunden rund die Hälfte, die andere Hälfte übernehmen die Steuerzahler. Ein attraktives und zuverlässiges Verkehrssystem in der Stadt, den Agglomerationen und den ländlichen Gebieten dient am Ende dem ganzen Land. Vom Ausland werden wir darum beneidet. Es hat aber seinen Preis.
Und der steigt. Weil weniger Menschen den ÖV benutzen, berät das Parlament in der Wintersession über ein weiteres Hilfspaket, das nochmals mehrere Hundert Millionen Franken kostet. Wozu?
Zurzeit haben wir im Regionalverkehr wieder knapp 80 Prozent des Vor-Corona-Aufkommens. Die Zahl der Kunden nimmt zwar zu, doch noch immer fehlen Einnahmen. Dieses Loch muss jemand stopfen, denn der Aufwand bleibt gleich, da das Angebot ja nicht reduziert wird. Wir sind froh, dass der Bund jetzt ein Hilfspaket auf die Beine stellt, und wir setzen uns dafür ein, dass auch der touristische Verkehr und der Ortsverkehr nicht leer ausgehen.
Rechnen Sie wieder mit gleich hohen Frequenzen wie vor der Pandemie?
Mittelfristig Ja. Wir sind zuversichtlich. Je mehr sich das Leben wieder normalisiert, desto schneller benützen die Leute wieder den ÖV. Denn die Stärken des Schweizer Systems sind einmalig. Das sehen auch unsere Kundinnen und Kunden.
Woher nehmen Sie die Gewissheit?
Ein Grossteil der Kunden, die uns heute fehlen, tun dies, weil es die Anlässe, zu denen sie mit dem Zug fahren würden, noch nicht gibt. Wenn die Street Parade oder ein grosser Kongress ausfällt, fahren die Leute auch nicht dorthin. In der Freizeit hingegen stellen wir gerade an schönen Wochenenden ein Verhalten wie vor der Krise fest. Es gibt sogar Regionen, die mehr Passagiere haben als 2019.
Wird es nicht weniger Zugfahrten brauchen, da Menschen dauerhaft im Homeoffice arbeiten?
Vielleicht wird es nicht mehr eins zu eins sein wie zuvor. Wir hoffen, dass sich die Spitzen besser verteilen werden. Dass sich die Leute sagen: Ich mache zuerst zwei Stunden Homeoffice und gehe danach ins Büro. Es kann aber auch sein, dass die Menschen nach einem Homeoffice-Tag am Abend verstärkt unterwegs sind. Denn das Bedürfnis nach Mobilität ändert sich grundsätzlich nicht. Wir sollten deshalb jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen und in zwei Jahren schauen, was sich wirklich geändert hat.
In Tram und Zug gilt keine Zertifikatspflicht, obwohl man sich dort anstecken kann. Zu Recht?
Ja. Der ÖV ist für alle da. Gegen eine Zertifikatspflicht im ÖV würden wir uns mit aller Kraft wehren. Es gibt im Übrigen keine Studie, die beweisen würde, dass es im ÖV zu Ansteckungen käme. Wir wollen keine Sonderlösung, für den ÖV muss das Gleiche gelten wie für die Geschäfte. Zumal wir im ÖV ein bewährtes Schutzkonzept haben.
Das haben die Restaurants, Kinos und Fitnesscenter auch, und trotzdem braucht es da seit kurzem ein Zertifikat.
In den Restaurants kann man beim Essen keine Maske tragen, im Tram oder Zug hingegen schon. Und das wird weitestgehend eingehalten und wo man kann, auch kontrolliert.
«Generell ist die Tragdisziplin gut, es mag Ausnahmen geben.»
Aber nur selten, und die Tragdisziplin in den Zügen lässt nach?
Generell ist die Tragdisziplin gut, es mag Ausnahmen geben. Der ÖV in der Schweiz ist aber für alle da, alle können ihn benutzen. Er verfügt über eine Transportpflicht. Anders als in Italien können wir den ÖV auch nicht unterteilen in «Intercity» und den übrigen ÖV. Der ÖV in der Schweiz ist ein System. Deshalb kann es dort keine Zertifikatspflicht geben.
Sonst steigt der ÖV-Verband auf die Barrikaden?
Wir haben das im Vorstand besprochen. In der heutigen Situation sehen es alle so, unisono. Sollte die Lage ganz schlimm werden, müsste der Bund die Zertifikatspflicht für alle verfügen. Aber sicher nicht nur für den ÖV. Es wäre ja absurd, wenn etwa eine Berufsschülerin im Zug das Zertifikat zeigen müsste, in der Schule aber nicht.
Wegen der Pandemie sind 20 Prozent weniger Generalabonnements im Umlauf. Warum hat die Branche bis jetzt keine Alternative präsentiert?
Das stimmt so nicht. Erstens ist das GA ein sehr gutes Produkt, das von 80 Prozent erneuert wurde, obwohl es einen Lockdown gab. Das muss man auch mal sagen. Dafür möchte ich den Kundinnen und Kunden danken. Und zweitens überlegt man sich jetzt andere Lösungen, die in einigen Verkehrsverbünden in ersten Pilotversuchen getestet werden. Das finden wir gut.
Warum hat man nicht früher reagiert und anderthalb Pandemie-Jahre lang zugeschaut, wie die Schiene Anteile an die Strasse verliert?
In der ersten Phase während des Lockdown hätte man ohnehin kein neues Produkt bringen können. Die Kombination von Abos, Einzeltickets und Spartickets ist gut. Nun geht es darum, Neues auszuprobieren. Ich finde es richtig, dass man nicht schnell einen Hüftschuss abgibt. Eine Prognose, wie sich das Mobilitätsverhalten längerfristig ändern wird, würde ich jetzt nicht wagen.
«Das ist ein dummer Vorschlag.»
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse will das GA abschaffen und schlägt stattdessen ein neues Finanzierungsmodell vor, bei dem Fahrten zu Stosszeiten mehr kosten. Was halten Sie davon?
Das ist ein dummer Vorschlag. Keine Branche verärgert ihre besten und treuesten Kundinnen und Kunden. Das machen wir im ÖV sicher nicht! Wir sind nicht gegen neue Lösungen, aber werfen Bewährtes sicher nicht über Bord. Apps, auf denen beim Einsteigen auf «Start» und beim Aussteigen auf «Stop» gewischt wird, finden wir gut. Das darf aber nicht zulasten der GA und der Verbundabonnemente gehen.
Sind die GA-Besitzer wirklich Ihre besten Kunden?
Alle Kundinnen und Kunden sind gut. Die GA-Kunden investieren aber auf einmal relativ viel, ohne dass alle den ganzen Gegenwert beanspruchen. Ein Grossteil der Kunden fährt nicht täglich von Bern nach Zürich und zurück, sondern zahlt mehr, einfach weil es so praktisch ist. Für uns bringt es den Vorteil, dass all jene, die ein GA haben, auch in der Freizeit ÖV fahren und damit zu einer guten Grundauslastung beitragen. Für uns ist das extrem wichtig, denn da haben wir in der Regel ausreichend Kapazitäten.
Viele hätten aber lieber ein flexibles GA?
Seien wir doch ehrlich: Die meisten möchten ja ein GA, einfach zu einem günstigeren Preis. Flexibel heisst: ein Modell, das mir gerade passt, aber weniger kostet.
Österreich führt demnächst ein Klimaticket unter 1000 Euro ein – das ist weniger als ein Drittel des GA-Preises.
Das zeigt, wie gut der Gedanke eines GA mit einer sorglosen Benutzung des ÖV ist. Die Situation in Österreich ist aber mit jener in der Schweiz nicht zu vergleichen. Unser ÖV-System ist dichter in der Fläche und im Takt, dafür ist der Preis höher. Wir sagen: Eine gute Leistung darf auch ihren Preis haben. Das heisst nicht, dass wir nicht auch versuchen würden, neue Kundinnen zu gewinnen. Wir sind uns bewusst, dass wir gerade im Freizeitverkehr für viele teuer sind. Hier sind wir gefordert. Aber beim Abopreis sehen wir keinen grossen Handlungsbedarf.
Längerfristig wollen Sie den ÖV-Anteil am Gesamtverkehr spürbar steigern. Ist das nicht unrealistisch?
Nein. Dies ist sinnvoll, aus klimapolitischen Gründen nötig, und auch möglich. Der ÖV ist Teil der Lösung: Er ist sauber und extrem energieeffizient. Er braucht wenig Energie pro Person oder Tonne, die er transportiert. Und in unserem dicht besiedelten Land braucht er wenig Platz. Es wird immer grosse Transportgefässe wie Züge und Busse brauchen, welche die Leute zuverlässig, pünktlich und sicher in die Zentren und wieder hinaus befördern. Elektroautos lösen das Problem des Platzes in den Städten nicht. Deshalb haben wir auch in der Corona-Zeit weiterhin die Unterstützung der Politik.
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