Weitere Tragödie im Gaza-Krieg110 Tote bei Hilfskonvoi – und keiner will schuld sein
Nach der Katastrophe bei der Verteilung von Hilfsgütern weisen sich Israel und Palästinenser die Verantwortung zu. Das belastet die Verhandlungen über Feuerpause und Geiseln.
Der Tod von mindestens 110 Palästinensern bei der Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen löst international schwere Kritik an Israel aus und wird von Forderungen nach einer sofortigen Waffenruhe begleitet.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach von gezielten Schüssen auf palästinensische Zivilisten, die Türkei und Katar nannten die Vorgänge «ein Massaker», der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell sprach von «einem weiteren Blutbad» in Gaza. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock forderte eine lückenlose Aufklärung und eine humanitäre Feuerpause, auch die UNO und die USA verlangten eine solche Untersuchung von Israel.
Möglich ist, dass der Vorfall die seit längerem laufenden und extrem schwierigen Gespräche über eine sechswöchige Feuerpause und den Austausch von israelischen Geiseln gegen palästinensische Gefangene belastet: Es könnte sogar zum Abbruch der Verhandlungen kommen. Dass der blutige Zwischenfall sich wenige Tage vor Beginn des Fastenmonats Ramadan ereignete, dürfte die Stimmung zusätzlich verschärfen und der Hamas in die Hände spielen.
Israel: Folge einer Massenpanik
Fakt ist: Die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung lässt sich in einem laufenden Krieg schwer erfüllen. Der Vorfall am Donnerstagmorgen ist für Aussenstehende kaum zu beurteilen. Ein Konvoi aus 30 Lastwagen mit Lebensmitteln war von der ägyptischen Grenze in den Gazastreifen gefahren. Im Norden des Küstenstreifens, der weitgehend zerstört ist, wurde der Konvoi von Hunderten Palästinensern umringt, die Hilfsgüter empfangen wollten.
Warum und vor allem ab wann die israelischen Soldaten geschossen haben, ist unklar. Während palästinensische Vertreter und die Hamas von einem Massaker der israelischen Streitkräfte (IDF) sprechen, stellen Sprecher der Regierung in Jerusalem und der IDF die Vorgänge als Folge einer Massenpanik dar. In der Nähe stehende Soldaten, die den Konvoi sichern sollten, hätten zur Selbstverteidigung geschossen.
Der israelischen Darstellung zufolge sind die meisten Toten Opfer einer Art Fluchtbewegung: Die um ihr Leben fürchtenden Lastwagenfahrer hätten die gegen die Fahrzeuge anstürmenden und die Ladeflächen besteigenden Menschen aus Angst überrollt. Laut IDF haben die Soldaten erst gefeuert, als sich die Menschenmenge auch auf sie zubewegt habe. Man habe nur auf die Beine gezielt.
Viele Opfer mit Schussverletzungen
Die palästinensische Darstellung widerspricht dem komplett. Die Massenpanik sei durch die israelischen Soldaten ausgelöst worden. Die Lastwagenfahrer seien nach den ersten Schüssen verängstigt losgefahren, hätten Menschen überrollt. Palästinensische Ärzte und Krankenpfleger sagten Medien, dass viele der Opfer Schussverletzungen aufwiesen. Einige hätten Kopfschüsse.
Die islamistische Hamas sprach von einem Massaker der IDF und drohte, die Gespräche über den Austausch israelischer Geiseln gegen palästinensische Gefangene abzubrechen.
So steht Behauptung gegen Behauptung: Aussagekräftige Bilder von den Vorfällen gibt es wenige. Ein von Israels Regierung veröffentlichtes Video zeigt Hunderte Menschen, die sich durcheinanderbewegen und dann wegstürmen. Ob, ab wann, warum und von wem geschossen wird, ist nicht zu erkennen. Offenbar ist das Video geschnitten worden. Unklar ist zudem, ob es einen einzigen oder eine Kette von Zwischenfällen gab.
Die «Jerusalem Post» berichtet von drei Ereignissen: einmal bei der Massenpanik bei Ankunft des Hilfskonvois, wobei Menschen überfahren worden seien. Später seien die Lastwagen von bewaffneten Plünderern beschossen worden, es habe erneut Tote gegeben. Zuletzt sei die Menschenmenge auf eine in der Nähe stehende IDF-Einheit zugelaufen. Die Soldaten hätten Warnschüsse abgefeuert und dann auf die Beine der Menschen gezielt. Dabei seien etwa zehn Personen getötet worden.
Zunehmendes Chaos gefährdet Israels Ziele
Auch andere israelische Medien stellen die Vorgänge als ebenso chaotisch wie unbeabsichtigt dar. Die regierungskritische Zeitung «Haaretz» stellt aber fest, dass der Zwischenfall zeige, wie Israel seine Chance auf den Sieg im Gaza-Krieg verspiele. Im Norden, wo die Armee die Hamas-Machthaber vertrieben habe, herrschten anarchische Zustände, die die IDF nicht in den Griff bekämen.
Im Süden sei das Leben noch etwas geregelter, weil die Hamas Teile der Macht noch in der Hand halte. Auch dort soll die Hamas nun zerschlagen werden: «Aber ohne diese Organisation wird das Chaos noch grösser», schreibt das Blatt. Je chaotischer die Zustände würden, desto schärfer würden die internationalen Proteste. Dies könne Israel zwingen, den Krieg abzubrechen. So würde es den Sieg über die Hamas verspielen.
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