Folgen der Suezkanal-BlockadeFünf Erkenntnisse aus der Ever-Given-Havarie
Die Ever Given sorgt für Verspätungen im Welthandel und Sorgen um Tiertransporte. Historisch ist der Zwischenfall aber ein Klacks: Andere Schiffe steckten jahrelang fest.

Fast sieben Tage lang hielt das Containerschiff Ever Given die Welt in Atem, nachdem der 400 Meter lange Frachtriese im Suezkanal stecken geblieben war und den gesamten Verkehr blockierte. Am Montag konnte das 220’000 Tonnen schwere Ungetüm aus seiner misslichen Lage befreit werden. Während die Ever Given auf der Weiterfahrt nach Rotterdam ist, geht es auch für die über 400 Schiffe, die vor oder im Kanal feststeckten, endlich wieder vorwärts. Die Havarie kostete Ägypten Millionen und die Weltwirtschaft Milliarden Dollar.
Der 1869 eröffnete und 2015 erweiterte Suezkanal ist eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt. Etwa 12 Prozent des gesamten internationalen Seehandels und knapp ein Drittel der verschifften Container fahren durch den Kanal zwischen Mittelmeer und Rotem Meer. Aus dem Unglück im Kanal lassen sich verschiedene Lehren ziehen, sei es für den Schutz der wichtigen Verbindung, für einen besseren Umgang mit Tieren – oder schlicht die Erkenntnis, dass das siebentägige Festsitzen der Ever Given im Vergleich zu anderen Schiffen noch harmlos war.
Welchem Experten man glauben sollte
Der Suezkanal könnte noch wochenlang blockiert bleiben, prophezeiten viele Experten letzte Woche, etwa der Chef einer holländischen Seebagger-Spezialfirma. Es wurde spekuliert, wie die Frachtcontainer entladen werden könnten, um das Schiff leichter zu machen, oder wie es gelingen könnte, den Bug freizubekommen. Es gab Sorgen um die Auswirkungen auf den Welthandel, wenn Hunderte Frachtschiffe wochenlang feststeckten.

Ein Experte hatte den Ausgang aber ziemlich präzise vorausgesagt: Mohab Mamish, ein Berater für Seehäfen der ägyptischen Regierung. Die Schifffahrt auf dem Kanal zwischen Rotem Meer und Mittelmeer werde «in höchstens 72 Stunden wieder aufgenommen» werden, sagte er am Donnerstagabend der Nachrichtenagentur AFP. Die Befreiung gelang schliesslich am Montagmorgen, genau genommen also ein paar Stunden später, als Mamish dies angesagt hatte.
Trotzdem noch ziemlich genau, und der Grund dafür dürfte darin liegen, dass Mamish den Kanal kennt wie sonst kaum jemand. Als ehemaliger Chef der Behörde für den Suezkanal habe er bereits mehrere Bergungsaktionen miterlebt, sagt Mamish. «Ich kenne jeden Zentimeter des Kanals.»
Der grausame Tierhandel
Fünf spanische und elf rumänische Tiertransporter warteten im oder vor dem Suezkanal auf die Weiterfahrt, gemäss der Organisation Animals International waren es insgesamt 20 Schiffe mit sogenannter Lebendfracht, die blockiert waren. Sie müssen theoretisch 25 Prozent mehr Tierfutter und Wasser mitführen, als sie für die Fahrt benötigen, ob das aber wirklich getan werde, sei nicht garantiert. Während des tagelangen Stillstands wuchs die Besorgnis um die rund 200’000 Tiere an Bord, viele davon Schafe. Ihr Schicksal ist zwar bereits bestimmt, denn nach dem Transport wartet die Schlachtung auf sie, ein Verhungern an Bord wäre aber wohl nochmals ein grausameres Ende ihres Daseins.
Ein zwischenzeitliches Entladen der Tiere an einem anderen Hafen war nicht möglich, weil es dazu entsprechende Papiere gebraucht hätte. Ob es für die Schafe und anderen Tiere nun noch gereicht hat, ist unbekannt. Die Schiffe sind nach der Blockade wieder unterwegs, gemäss Animals International haben einige davon die Reservezeit aber schon überschritten, wie der Europaverantwortliche Gabriel Paun sagt. Sechs der elf rumänischen Schiffe hätten ihren Zielhafen schon vor vier Tagen erreichen sollen, selbst mit der nötigen Reserve hätten diese jetzt wohl kein Futter mehr an Bord.

Von den rumänischen Vertretern heisst es zwar, dass genügend Vorräte «für ein paar Tage» vorhanden seien. Paun gibt aber zu bedenken, dass die Verantwortlichen kaum zugeben würden, wenn Tiere an Bord verenden. Dies passiere sowieso, weshalb Animals International seit langem für eine Verbesserung der Zustände bei solchen Lebendtransporten kämpfe. Oft sterben Tiere auf dem Weg in die Golfstaaten bei Temperaturen bis zu 60 Grad im Schiff. Jene, die überlebten, würden oft auf eine Art und Weise behandelt und geschlachtet, die in der EU nicht zulässig wäre.
Tausende Tiere sterben jährlich auf See, auch bei Unfällen, wenn überalterte Transportschiffe sinken. Gemäss einem EU-Bericht wurden allein 2018 über 2,8 Millionen Kühe, Schafe und Ziege aus der EU in Mittelmeerstaaten exportiert. Die Organisation Compassion in World Farming sagt, dass die dabei verwendeten Schiffe umgebaute Frachter seien und nicht für den Transport von Tieren ausgelegt. Oft gebe es keinen Tierarzt an Bord, obwohl die Fahrt meistens fünf bis acht Tage dauere. In manchen Fällen sind Tiere wochenlang unterwegs.
Dabei wäre die Tortur für die Tiere gar nicht nötig, sagt Agathe Gignoux von Compassion in World Farming. Sie könnten bereits vor dem Transport geschlachtet werden, was das Leiden etwas mindern würde. Dass dies nicht gemacht werde, habe nichts mit einer notwendigen rituellen Schlachtung oder Haltbarkeitsproblemen zu tun, sagt Gignoux. «Der wahre Grund ist ganz einfach: Es kostet mehr, die Tiere in Europa zu schlachten.»
Welthandel am Anschlag
Die YM Wish war das erste Schiff, das nach der Freilegung der Ever Given durch den Suezkanal kam. Bis sich der gesamte Stau vor den Kanaleinfahrten auflöst, wird es aber wohl noch einige Tage dauern, warnt die weltgrösste Container-Reederei Maersk. Und wie beim Stau auf den Strassen verlagert sich das Problem dann einfach eine Position weiter in die Häfen, wie die Genfer Mediterranean Shipping Company sagt. Wegen Corona gibt es dort bereits Engpässe, die Schiffe kamen zuvor bereits sechs bis sieben Tage verspätet an. Nun droht ein Chaos, wenn plötzlich mehr Schiffe am gleichen Ort ent- oder beladen werden müssen.
Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel schreibt in einer Medienmitteilung nach der Ever-Given-Bergung: «Die Havarie im Suezkanal wird noch nachwirken. Die Blockade des Kanals hat schon durch die Corona-Krise entstandene Engpässe im maritimen Welthandel verschärft.» Die Transportkosten von Asien nach Europa seien bereits zum Jahreswechsel 2020/21 explodiert. «Es ist jetzt fast fünfmal so teuer, einen Container von Ostasien nach Europa zu transportieren wie vor einem Jahr.»

Die Menschen investieren ihr Geld aufgrund des Lockdown nun praktisch ausschliesslich in neue Konsumgüter und Elektronik für zu Hause, die von Asien herangeschafft werden. Das führt zu einer regelrechten Containerknappheit, denn die Rückfahrt mit leeren Containern lohnt sich kaum. Die Havarie treibe tendenziell die Preise für den Seehandel nach oben, was sich früher oder später auch in den Produktpreisen niederschlagen dürfte, schreibt das Institut für Weltwirtschaft.
In der Schweiz könnten Kleider, elektronische Teile, Spielzeug und Sportartikel teurer werden, diese werden insbesondere in Containern importiert. Andere Experten entwarnen diesbezüglich jedoch. In der NZZ sagt Erik Hofmann von der Universität St. Gallen, dass für die Endkonsumenten eine Erhöhung der Transportkosten wenig relevant sein dürfte. Vermittelnde Dienstleister wie beispielsweise Speditionen könnten jedoch einen erhöhten Margendruck spüren.
Aha-Erlebnis für Terroristen?
Wenn eine Blockade im Suezkanal den Welthandel ins Schleudern bringt, könnte das auch Terroristen oder Piraten interessieren. Schon 2013 attackierten die Furqan-Brigaden ein Frachtschiff im Kanal und verstanden dies als direkte Attacke auf die «Hauptschlagader» des westlichen Systems. 2009 konnten die ägyptischen Behörden 25 Al-Qaida-Sympathisanten verhaften, die einen Bombenanschlag auf ein Schiff im Kanal planten. Man hat jetzt gesehen, wie kompliziert es war, ein riesiges Frachtschiff freizulegen, und welche Auswirkungen das für den Welthandel hat. Eine absichtlich herbeigeführte Blockade könnte die Schifffahrt im Kanal noch viel länger aufhalten.

Das wäre letztlich auch für Piraten von Interesse. Eine längere Sperrung würde die Schiffe auf den Weg rund um Afrika zwingen, wo es sowohl vor Somalia wie auch an der Westküste Angriffe und Entführungen gibt. Zwar werden Teile des Gebiets mittlerweile gesichert, wenn aber alle Schiffe den 30 Prozent längeren Weg über das Horn von Afrika nehmen müssten, gäbe es für die Piraten viel mehr mögliche Ziele.
Gefahr drohe aber nicht nur von Terroristen zu Wasser oder Land, sondern auch auf dem digitalen Weg, schreiben die beiden Nahost- und Nordafrika-Experten Victoria Coates und Robert Greenway. IT und Kommunikation des Kanals seien kaum vor Cyber-Attacken geschützt und benötigten dringend ein Update. Das sei derzeit die grösste Gefahr für den Suezkanal, der immer noch nach der 1888 unterzeichneten Konvention von Konstantinopel funktioniere. Mittlerweile durchfahren aber nicht mehr 500, sondern 19’000 Schiffe jährlich den Kanal, weshalb ein Update des gesamten Systems dringend nötig sei.
Sieben Tage sind ein Klacks
Sieben Tage blockierte die Ever Given letztlich den Suezkanal, mindestens so lange mussten alle Schiffe auf die Weiterfahrt warten. Das ist aber nur ein Klacks im Vergleich mit einer viel längeren Aufenthaltszeit im Kanalbereich: Von 1967 bis 1975 waren 14 Schiffe im Grossen Bittersee gefangen.
Im Juni 1967 brach der Sechstagekrieg zwischen Israel und Ägypten aus. Die Eskalation begann nach der ägyptischen Sperrung der Strasse von Tiran für die israelische Schifffahrt. Als dann ägyptische Soldaten an der Grenze aufmarschierten, entschloss sich Israel zu einem präventiven Angriff auf den Nachbarstaat. Israel eroberte dabei den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel von Ägypten, das Westjordanland mit Ostjerusalem von Jordanien und die Golanhöhen von Syrien.

Als der Krieg ausbrach, schloss Ägypten den Suezkanal, und die 14 Schiffe, die sich noch darin befanden, mussten im Grossen Bittersee ankern. Nach dem israelischen Sieg nach sechs Tagen gab es einen Waffenstillstand, mit dem Suezkanal als Demarkationslinie: Die ägyptischen Truppen bewachten fortan das westliche Ufer, auf der anderen Seite standen die Israelis. Die 14 Schiffe aus Deutschland, Grossbritannien, Bulgarien, Frankreich, Polen, Schweden, der Tschechoslowakei und den USA waren dazwischen gefangen, auch weil die Gewässer des Kanals mittlerweile vermint waren.
Die Schifffahrt im Suezkanal wurde erst 1975 wieder aufgenommen. Bis dahin steckten die 14 Frachter im Grossen Bittersee fest. Die ursprüngliche Besatzung durfte zwar drei Monate später nach Hause, die Eigner schickten danach aber neue Crews, um die Schiffe flottzuhalten und vor Rost zu bewahren. Sobald der Kanal wieder offen war, sollte die wertvolle Fracht weiterbefördert werden, so der ursprüngliche Plan.

Als die Friedensverhandlungen scheiterten, stellten sich die Kapitäne der Schiffe auf eine längere Zeit auf dem See ein. Sie organisierten sich in der Great Bitter Lakes Association und besuchten sich regelmässig. Das polnische Schiff hatte einen Doktor an Bord und wurde zur Arztpraxis erkoren. Das schwedische Schiff hatte einen Fitnessbereich, ein anderes baute auf dem Deck ein Fussballfeld und organisierte Turniere. Mit den Rettungsbooten wurden Segelregattas ausgetragen, 1968 gab es gar «Olympische Spiele auf dem Bittersee».
Zu Weihnachten wurde eine Tanne geschmückt und auf einem Floss in der Mitte der Schiffe platziert. Die Schiffe hatten eigene Poststempel, und die Crews zeichneten selber inoffizielle Briefmarken, die damals bei Sammlern beliebt waren.

Die Ablenkung war auch gedacht, um die Besatzung vor übermässigem Alkoholkonsum zu bewahren, dennoch schätzte ein Kapitän, dass wohl 1,5 Millionen Bierflaschen im Lauf der Jahre im See landeten. Und er wunderte sich, was wohl Archäologen dereinst von diesem Fund halten werden. Ab 1969 nahmen die Aktivitäten auf den Schiffen der «Gelben Flotte», die durch den Wüstensand stets einen gelblichen Schimmer hatten, langsam ab. Um Personal zu sparen, wurden einzelne Schiffe zusammengelegt, später wurden Besatzungen ganz abgezogen und Wartungsfirmen eingesetzt.
Von den 14 Schiffen überstanden 13 die Spannungen im Suezkanal, der US-Frachter African Glen wurde 1973 im Yom-Kippur-Krieg von Israel versenkt, nachdem ägyptische Soldaten von dort aus das gegnerische Ufer beobachtet hatten. Als der Kanal 1975 ausgeräumt und wieder geöffnet wurde, waren die meisten der Schiffe aber nicht mehr seetüchtig und mussten abgeschleppt werden.
Einzig die zwei deutschen Schiffe – zuletzt von einer norwegischen Firma gewartet – konnten den Kanal aus eigener Kraft verlassen und ihre Fahrt fortsetzen. Für die Eigner entpuppte sich die jahrelange Warterei als gutes Geschäft, denn der Wert der Fracht – Rohstoffe wie Wolle, Stahl, Blei und Erzsand – war stark gestiegen. Die Schiffe Münsterland und Nordwind wurden in Hamburg von 30’000 Zuschauern begrüsst – nach über acht Jahren und drei Monaten auf See.
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