Führungslos ins Chaos
Mitten in der Brexit-Krise entgleitet der Regierung endgültig die Kontrolle. Das kann sich London nicht leisten.
Grossbritannien bietet ein Bild des Erbarmens. Das Land, das einmal für Common Sense und Pragmatismus stand, hat sich in wildem Chaos verfranst. Sein weltweit bewundertes Parlament kann sich, in der grössten Nachkriegskrise des Landes, zu nichts entschliessen. Seine alten Parteien drohen zu zerfallen. Seine Regierung ist funktionsunfähig, wie gelähmt.
Premierministerin Theresa May ist diese Woche endgültig die Kontrolle über die Ereignisse entglitten. Sie kann nicht einmal mehr das Kabinett, das sie leitet, zusammenhalten.
Bei der Abstimmung zur Verhinderung eines «No Deal»-Brexit musste sie allen Regierungsmitgliedern freistellen, wie sie stimmen wollten – ein No-Deal-Brexit wurde danach nur äusserst knapp abgelehnt. Hätte sie das nicht getan, hätte es die Regierung – so explosiv ist die Lage – vor ihren Augen in Stücke gerissen. Die Feindseligkeit der Lager in Mays Partei verschärft sich schon jetzt zum bitteren Krieg.
Vor ein paar Jahren wäre so etwas nicht vorstellbar gewesen.
Wäre es nicht so tragisch, müsste man lachen. Ausgerechnet das Land, das mit dem Brexit seinen Bürgern mehr «Kontrolle über ihre Geschicke» verschaffen wollte, droht ausser Kontrolle zu geraten. Die Gruppe der Tory-Hardliner, die seit dem Referendum den Ton angibt, scheren sich nicht um die Warnungen vor einem «Sprung in den Abgrund».
Ihre Wortführer erwägen ungeniert, internationale Vereinbarungen zu brechen, geschuldete Gelder einzubehalten, das kleine Nordirland zurück in die Kälte zu stossen und die Hälfte der eigenen Bevölkerung als «Verräter» zu denunzieren. Vor ein paar Jahren wäre so etwas nicht vorstellbar gewesen. Ein Amoklauf im Namen des «Volkswillens». Die Herrschaft rechter Fantasten über eine ganze Nation.
Nicht an allem tragen May und ihre Minister Schuld, in dieser gefährlichen Phase des Brexit. Der Brexit selbst, so ungeplant, wie er war, hätte jeder Regierung Schwierigkeiten beschert. Die Spannung zwischen dem parlamentarischen System und dem auf der Insel ungebräuchlichen Instrument des Volksentscheids bleibt ungelöst.
Ohne Not den Hardlinern ausgeliefert
Persönliche Obsessionen Mays, politische Engstirnigkeit und die beharrliche Weigerung, Übereinkunft zu suchen, haben das Problem aber wesentlich verschlimmert. Dass die Premierministerin sich ohne Not den Hardlinern auslieferte, hat zur gegenwärtigen verfahrenen Lage geführt.
Realitätsblind ist diese Regierung in die Verhandlungen gegangen, denen die EU jetzt, kaum zwei Wochen vom «Abgrund» entfernt, ein Ende setzen will. Die Brexiteers, die in ihrer Überheblichkeit von Anfang an real existierende Kräfteverhältnisse verkannten, schufen sich Fantasiewelten, statt einen vernünftigen Abgang zu planen.
Nun, da ihr Land zur Realität erwacht, wollen sie am liebsten alles mit sich in die Tiefe reissen. Ob kühle Köpfe im Parlament dies in letzter Minute verhindern können, weiss man im Augenblick noch nicht. Auch die offizielle Opposition hat wenig Führungsqualitäten bewiesen und stattdessen vollkommen selbstbezogen operiert.
Die britische Politik braucht Zeit zum Luftholen und Nachdenken.
Dabei liegt auf der Hand, wie sich die Briten aus den Tumulten retten könnten, in denen sie sich befinden. Der Widerwille gegen «No Deal» ist nur ein erster Schritt, noch keine Garantie. Als nächstes wird ein grosszügiger zeitlicher Aufschub benötigt, der der britischen Politik Zeit zum Luftholen und Nachdenken gibt.
Ebenfalls gebraucht wird ein klarer Zweck dieses Aufschubs. Zum Beispiel die Aushandlung eines andersartigen Brexit, einer «sanften Landung» – oder eine neue, sinnvoll organisierte Volksabstimmung, die ein Urteil über die jetzt deutlich gewordenen Alternativen und ihre Konsequenzen erlaubt.
Das Problem hier ist natürlich, dass man sich in Westminster bislang auf nichts hat einigen können. Wogegen sie sind, ist den meisten Abgeordneten klar. Aber wofür sind sie? Beim Brexit gibt es zwischen den verhärteten Fronten wenig Raum für Gemeinsamkeit.
Europa braucht einen verlässlichen Partner
Wie die gesamte britische Bevölkerung, sind auch Parlament, Parteien und Regierung in Sachen Brexit auf verhängnisvolle Weise gespalten. Mitten in dieser gewaltigen Krise ist das Königreich praktisch führungslos. Das aber kann sich London nicht länger leisten. Dass die Welt entgeistert nach Grossbritannien schaut, ist kein Zustand für ein Land von dieser Bedeutung.
Europa braucht einen verlässlichen Partner jenseits des Ärmelkanals – ob in oder ausserhalb der EU. Die Briten wiederum sind, bis sie wieder zur Besinnung kommen, auf mitdenkende Köpfe jenseits des Kanals angewiesen. Dass man ihnen resigniert den Rücken kehrt, hilft niemandem in dieser Situation.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch