Friedensdiplomat im Interview«Norwegen macht es bei den Guten Diensten viel besser als die Schweiz»
Kaukasus-Kenner Günther Baechler warnt vor einem neuen Angriffskrieg von Aserbaidschan. Ignazio Cassis und dem Bundesrat wirft er vor, den Konflikt um Berg-Karabach zu vernachlässigen.
Herr Baechler, mit Schrecken verfolgt die Welt die Kriege in der Ukraine und in Gaza. Der Konflikt im Kaukasus findet dagegen kaum Aufmerksamkeit. Sie kommen gerade von dort zurück. Wie ist die Lage?
Die Lage ist sehr brenzlig. Im Herbst wurden über 100’000 Armenier innerhalb von vier Tagen aus Berg-Karabach nach Armenien vertrieben, fast die gesamte Bevölkerung. Aserbaidschan hat das Gebiet militärisch erobert, unterstützt durch die Türkei. Das sorgt in Armenien jetzt für grosse humanitäre Probleme. 100’000 Flüchtlinge in einem Land mit weniger als drei Millionen Einwohnern, das ist enorm.
Immerhin schweigen die Waffen.
Für den Moment. Ich befürchte aber, dass es noch nicht vorbei ist. Aserbaidschan hat weitere Ziele, diesmal in der Republik Armenien. Im Süden versucht Präsident Alijew, quer durch Armenien einen Korridor zu eröffnen zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan.
Wie gross ist die Eskalationsgefahr?
Im Süden Armeniens gibt es immer wieder Schusswechsel an der Grenze. Die Leute dort leben in Angst und Unsicherheit. Alijews Rhetorik ist sehr aggressiv. Und wie wir spätestens seit der Eroberung von Karabach wissen, muss man seine Rhetorik ernst nehmen. Wir müssen damit rechnen, dass der Krieg in die Republik Armenien eskaliert.
Warum ist der Korridor nach Nachitschewan für Alijew so wichtig?
Er hat für ihn eine symbolische Bedeutung: Die Familie Alijew stammt aus dieser Region. Dazu kommt die strategische Bedeutung. Aserbaidschaner und Türken sind ethnisch, sprachlich und kulturell eng verwandt. Es geht ihnen darum, die Turkvölker zwischen der Türkei und Zentralasien zu verbinden. Geostrategisch hätte das enorme Folgen.
Inwiefern?
Es entstünde eine neue Achse zwischen Asien und Europa, die sicher auch von China im Rahmen der neuen Seidenstrasse genutzt würde. Und die Turkvölker verbindet letztlich eine grosse Feindschaft gegenüber Armenien – seit 1915, seit dem türkischen Genozid an den Armeniern. Dieses nationale Trauma hat sich schon im Herbst teilweise wiederholt, als Aserbaidschan mit türkischer Unterstützung die Karabach-Armenier vertrieb.
Völkerrechtlich ist Berg-Karabach doch Teil Aserbaidschans.
Für namhafte Völkerrechtler wie Oliver Diggelmann von der Universität Zürich ist klar, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker in einem solchen Fall höher zu gewichten ist als das Recht eines Staates, hier Aserbaidschan, auf territoriale Integrität. Das gilt umso mehr bei einem De-facto-Staat mit eigener Verwaltung, wie es Berg-Karabach seit über 30 Jahren war.
Trotzdem hat Aserbaidschan das Gebiet militärisch erobert – und die Welt hat es hingenommen.
So ist es. Diplomatisch hat man zwar jahrelang vermittelt im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Von 2016 bis 2018 war ich selber OSZE-Sondergesandter für den Südkaukasus. Wir haben wirklich viel versucht, es lag ein guter Friedensvorschlag auf dem Tisch. Aber im Grunde wollten beide Seiten keine diplomatische Lösung. Für Alijew hat sich das jetzt ausgezahlt: Er hat gekriegt, was er wollte.
Vor ein paar Tagen wurde der EVP-Nationalrat Nik Gugger, der für die OSZE die Präsidentschaftswahlen beobachten sollte, von Aserbaidschan ausgeschafft. Ist das eine Posse? Oder mehr?
Der Europarat ist eine Institution von Demokratien, welche bestimmte Werte teilen. Gewisse Länder gehören mit ihren gegenwärtigen Regierungen da nicht hinein. Dazu sollte der Europarat stehen und sein Profil wieder stärken.
Warum gab es international nicht mehr Reaktionen auf die Vertreibung der Karabach-Armenier?
Das hat auch damit zu tun, dass die EU auf das Gas aus Aserbaidschan angewiesen ist, seitdem sie kein russisches Gas mehr bezieht. Wir wissen allerdings, dass auch russisches Gas über Aserbaidschan nach Europa umgeleitet wird.
Hat sich der Westen von Alijew kaufen lassen – mit Erdgas?
Es gibt mehrere Motive für die Passivität des Westens. Zum einen lässt Europa Russland bei der Befriedung des Südkaukasus traditionell den Vortritt. Zum andern hat Europa in Aserbaidschan tatsächlich grosse wirtschaftliche Interessen – auch die Schweiz. So hat die Schweiz ab 2012 die bedeutende Transadriatische Pipeline von Aserbaidschan nach Italien mitgeplant, mitverhandelt und mitfinanziert. Socar, eine aserbaidschanische Staatsfirma, betreibt in der Schweiz Tankstellen und verkauft einen Grossteil seines Erdöls über das Hauptbüro in Genf.
Könnte sich die lasche Reaktion des Westens rächen?
Jede Missachtung des Völkerrechts, die man toleriert, ist eine Einladung dazu, weiter das Völkerrecht zu brechen. Das ist die Tragödie der heutigen Zeit. Es ist legitim geworden, das Völkerrecht mit Füssen zu treten.
Wer ist schuld an diesem Prozess?
Die Russen würden sagen, der Westen habe angefangen in Kosovo und mit dem Angriff der Nato auf Serbien. Der Westen würde sagen, Putin habe schon früh klargemacht, dass ihn das Völkerrecht nicht interessiere, eigentlich schon 2008 mit dem Krieg gegen Georgien.
Aserbaidschan ist nicht so mächtig wie Russland. Wenn der Westen wollte, könnte er Alijew wohl stoppen.
Das tut er aber nicht. Ein Grund dafür ist auch die Türkei. Die Türkei, immerhin Nato-Mitglied, hat Aserbaidschan mit Drohnen und Söldnern unterstützt, hat also ebenfalls das Völkerrecht gebrochen. Das hat im Westen schlicht niemand thematisiert, weil man sich mit Erdogan die Finger nicht verbrennen wollte. Am stärksten hat noch Frankreich reagiert, weil es eine grosse armenische Diaspora hat. Alijew hat darauf die Franzosen verunglimpft.
Hätte der Westen Sanktionen ergreifen müssen?
Dann wäre auch der Gasdeal mit Baku dahin gewesen. 2022 drohte aber ein Energiemangel, da war Europa verzweifelt auf der Suche nach Gas.
Welche Rolle spielt in alledem die Schweiz?
Die Schweiz hat beim internationalen Schweigekonzert mitgemacht. Früher war sie ziemlich aktiv in der Region, vor allem, als sie 2014 den OSZE-Vorsitz hatte. Ich war damals Botschafter in Georgien und Armenien. Wir versuchten, zwischen Baku und Jerewan einen strukturierten Dialog in Gang zu setzen. Es gab sogar ein Treffen der beiden Regierungschefs in Kehrsatz bei Bern. Der damalige Aussenminister Didier Burkhalter hat das sehr unterstützt. Das hörte aber 2018 auf. Das EDA hat unsere Stellung in diesem Prozess verspielt.
Kurz vorher, Ende 2017, wurde Ignazio Cassis neuer Aussenminister.
Der diplomatische Rückzug aus dem Kaukasus hängt wohl mit dem Wechsel an der Spitze des Aussendepartements zusammen. Als dann 2020 Aserbaidschan militärisch angriff und 2023 Karabach ganz eroberte, war die Schweiz nicht darauf vorbereitet, noch irgendeine Vermittlerrolle zu spielen. Es hängt immer auch von einzelnen Personen ab, wie stark sich die Schweiz mit Guten Diensten engagiert.
Hängt es auch mit wirtschaftlichen Interessen zusammen?
Sie sind ein wichtiger Faktor. Durch die Präsenz der aserbaidschanischen Staatsfirma Socar ist auch der Rohstoffhandelsplatz Genf tangiert. Darauf nimmt die Schweizer Politik schon Rücksicht, auch wenn es niemand offen sagt. Als Diplomat spürt man das. Ähnliche wirtschaftliche Rücksichtnahmen habe ich auch bei der Vermittlung in anderen Konflikten erlebt.
«Norwegen macht es bei den Guten Diensten anders als die Schweiz. Viel besser.»
Könnte die Schweiz im Kaukasus mehr tun?
Für Karabach ist die Sache gelaufen. Aber die Schweiz könnte sich überlegen, wie sie verhindern könnte, dass es zu einem weiteren Krieg kommt, zu einer weiteren Landnahme.
Die Schweiz bietet ihre Guten Dienste doch immer und überall an.
Wenn der Bundesrat Gute Dienste leisten will, kann er nicht einfach Espresso trinken und warten, bis das Telefon klingelt und jemand sagt: «Hallo, ich brauche die Guten Dienste der Schweiz.» So läuft es heute nicht, und so lief es vielleicht nie. Wer vermitteln will, muss sich aktiv einbringen. Dazu braucht man eine Strategie. Und vor allem braucht man einen politischen Konsens im Inland, dass die Schweiz überhaupt aktiv Friedenspolitik betreiben soll.
Diesen Konsens sehen Sie nicht?
Nein, diesen Konsens für Gute Dienste gibt es überhaupt nicht mehr. Der Gesamtbundesrat will sich nicht aus dem Fenster lehnen – und namentlich Aussenminister Ignazio Cassis will das nicht. Andere Länder machen das anders. Im EDA in Bern hören sie es gar nicht gerne, aber ich nenne jetzt das Reizwort: Norwegen. Norwegen macht es bei den Guten Diensten anders als die Schweiz. Viel besser.
Woran liegt das?
Egal, welche Partei gerade in der Regierung sitzt: Norwegen geht aktiv vor und hat auch nicht dieses Feigenblatt der Neutralität, das ohnehin nichts bringt. Norwegen ist Nato-Mitglied und positioniert sich trotzdem als glaubwürdiger Vermittler. Bevor in Bern der Bundesrat am Mittwoch zur Sitzung zusammentritt, sitzen die Norweger schon im Flugzeug zur nächsten Vermittlung.
Dabei ist Norwegen auch nur ein kleines Land.
Aber es spielt heute diplomatisch in einer anderen Liga als die Schweiz. Einigen hierzulande ist das ganz recht so. Denn wer aktiv ist, kann Fehler machen und kritisiert werden.
Die Schweiz hat doch soeben einen Friedensgipfel zum Ukraine-Krieg angekündigt.
Ja, im Fall der Ukraine ist Bundesrat Cassis aktiv. Aber es gibt eine grosse Verwirrung. Ist das wirklich eine Friedenskonferenz? Ohne die Russen? Nein! Das ist kein Friedensgipfel, und es führt auch kein linearer Weg zu einem solchen.
Was ist es dann?
An diesem Gipfel soll die sogenannte Friedensformel, die Präsident Selenski lanciert hat, politisch abgestützt werden. Dass die Ukraine damit in die Offensive ging, war diplomatisch geschickt. Ich finde: Wenn Selenski einen solchen Gipfel will und die Schweiz ihm dabei helfen kann, soll sie das machen. Aber ich warne davor, überzogene Erwartungen zu wecken.
Welche Erwartungen sind falsch?
Es kann nicht darum gehen, dass die Schweiz jetzt versuchen sollte, hinter den Kulissen irgendwie die Russen einzuladen. Es wird auch dann nicht zu einer echten Friedenskonferenz, wenn die Chinesen dabei wären. So geht es nicht.
Was wäre denn sinnvoll?
Ich würde versuchen, über China an Putin zu gelangen und ihm vorzuschlagen, er solle mit seinen Partnerländern so etwas wie eine eigene russische Friedensformel entwickeln. Dann hätte man zwei Pläne auf dem Tisch und könnte schauen, wo es Überlappungen bei einfachen Punkten gibt – und wo die grossen Differenzen liegen. Dann könnte man mit ersten Verhandlungen beginnen, zunächst nicht auf höchster Ebene, sondern auf technischer.
Vielleicht ist genau das Cassis’ Geheimplan?
Vielleicht. Aber man muss jetzt sehr aufpassen, dass die Initiative der Ukraine nicht wegen überzogener Erwartungen an der Wand zerschellt.
Russland wirft der Schweiz vor, nicht mehr neutral zu sein. Kann die Schweiz überhaupt noch glaubhaft vermitteln?
Was heisst schon neutral? Entscheidend bei Vermittlungsbemühungen ist nicht eine formelle Neutralität, sondern dass man in den Verhandlungen im entscheidenden Moment unparteiisch ist. Dass die Schweiz die Sanktionen gegen Russland mitträgt, muss man in Moskau natürlich bedauern. Aber ich würde das nicht allzu ernst nehmen. Ich denke, dass die Schweiz immer noch Gesprächskanäle nach Moskau hat.
Als Botschafter in Georgien hatten Sie viel Kontakt zu Russland, weil Sie im Rahmen eines Schutzmachtmandats Moskaus Interessen vertraten. Wie würden Sie die Beziehungen der Schweiz zu Russland beschreiben?
In der OSZE hat man immer wieder kritisiert, wir seien zu russlandfreundlich. Ein Diplomat in Wien sagte mir einmal, wenn wir nicht die Schweiz wären, würde die Welt diese Russland-Nähe offen anprangern. Selbst heute liegen noch bedeutende Oligarchengelder in der Schweiz. Und in Basel stehen in einem Hangar russische Privatjets, damit sie ja keinen Kratzer abkriegen. Die Schweiz ist gegenüber Russland immer noch sehr zuvorkommend.
Im Artikel stand zuerst fälschlicherweise, dass Nationalrat Nik Gugger für den Europarat in Aserbaidschan die Wahlen beobachten sollte. Richtig ist, dass Gugger von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entsandt worden war.
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