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Vertreibung aus Berg-Karabach
Schweiz-Armenier klagen an: «Wir werden alleingelassen»

Die armenische Gemeinschaft fühlt sich auch von der Schweiz im Stich gelassen. Im Bild: Teilnehmende einer Demonstration in Bern gegen die Aggression Aserbaidschans in der Region Berg-Karabach.
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«Wir tun alle, was wir können», sagt Mike Baronian. Der Geschäftsmann – ein Schweizer mit armenischen Wurzeln – ist seit sechs Tagen in der armenischen Hauptstadt Jerewan, um zu helfen. Er besitzt in Armenien Immobilien und beherbergt dort nun Flüchtlinge aus Berg-Karabach – oder Arzach, wie die Einheimischen die Region nennen, die ausserhalb der Republik Armeniens innerhalb Aserbaidschans liegt, aber fast ausschliesslich von Armeniern besiedelt war.

Die Familien, die er aufgenommen habe, berichteten Schreckliches, sagt Baronian. Um die Bevölkerung aus Arzach zu vertreiben, seien Menschen ermordet worden. «Es ist eine ethnische Säuberung», sagt Baronian. Er erinnert an den Armenier-Völkermord von 1915 und sagt: «Es passiert wieder.»

Wie auf einer Beerdigung

Die armenische Gemeinschaft in der Schweiz, die rund 7000 Personen umfasst, ist erschüttert. Vor zehn Tagen forderten mehrere Hundert Personen an einer Kundgebung in Bern den Stopp der Aggression Aserbaidschans in Berg-Karabach. «Es war wie auf einer Beerdigung», sagt die Autorin Manuschak Karnusian, Schweizerin mit armenischen Wurzeln. 

Protesters hold up banners and flags during a demonstration in Bern, Switzerland, Saturday, September 23, 2023. Protesters demonstrate against the aggression of Azerbaijan in the Nagorno-Karabakh region. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

Seither haben sich die Ereignisse überschlagen: Die Behörden von Berg-Karabach kapitulierten, innert weniger Tage flüchteten mehr als 100’000 Menschen nach Armenien. Fast die gesamte Bevölkerung Berg-Karabachs. Stepanakert, die Hauptstadt Karabachs, sei eine Geisterstadt, berichten ausländische Journalisten.

«Viele befürchten, dass auch der Süden Armeniens angegriffen wird, da Aserbaidschan auf diesem Terrain einen Korridor zur Exklave Nachitschewan durchsetzen will», sagt Karnusian. Hinzu kommt die Angst, dass in Arzach die Spuren einer jahrtausendealten Kultur ausradiert werden – wie es vor 20 Jahren bereits in Nachitschewan geschah. Dort wurden gemäss «Caucasus Heritage Watch» mehr als 100 armenische Kirchen, Klöster und Friedhöfe zerstört – fast das gesamte kulturelle Erbe. «Es passiert wieder», sagt Karnusian.

«Die Schweiz macht einen Fehler»

Sarkis Shahinian, ebenfalls Schweizer mit armenischen Wurzeln, setzt sich als Co-Vorsitzender der Gesellschaft Schweiz-Armenien und als Generalsekretär der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Armenien für die Interessen der Armenier ein – und ist nun bitter enttäuscht von der Schweiz. «Wir werden alleingelassen», sagt er, «wieder.»

Sarkis Shahinian, Ehrenpraesident der Gesellschaft Schweiz-Armenien, spricht an einer Medienkonferenz ueber das Urteil des Europaeischen Menschenrechtsgerichtshofs zu Dogu Perincek, am Donnerstag, 15. Oktober 2015, in Bern. Die Schweiz hat mit der Verurteilung des tuerkischen Nationalisten Dogu Perincek wegen Rassendiskriminierung die Meinungsaeusserungsfreiheit verletzt. Das hat die Grosse Kammer des Europaeischen Gerichtshofs fuer Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag endgueltig entschieden. (KEYSTONE/Peter Schneider)

Nicht nur die Weltgemeinschaft lasse Armenien im Stich, sondern auch die Schweiz, kritisiert Shahinian. «Aus wirtschaftlichen Gründen.» Die EU sei auf das Gas aus Aserbaidschan angewiesen, das indirekt mehrheitlich aus Russland stamme. Und die Schweiz beherberge die Handelsgesellschaft der aserbaidschanischen staatlichen Erdölgesellschaft Socar – die in der Schweiz auch rund 200 Tankstellen betreibt.

Geschäftsmann Baronian sagt es so: «Die Schweiz macht weiterhin Geschäfte mit Aserbaidschan und schüttelt die Hand des aserbaidschanischen Diktators Ilham Alijew. Das ist ein grosser Fehler.»

EU fand deutlichere Worte

Die Armenier werfen der Schweiz vor allem vor, dass sie das Vorgehen Aserbaidschans nicht klar verurteilt hat. Tatsächlich fand die EU im UNO-Sicherheitsrat deutlichere Worte: EU-Vertreter Josep Borrell verurteilte die Aggression Aserbaidschans («The European Union has condemned the military operation»). Die Schweizer Botschafterin Pascale Baeriswyl sagte dagegen nur, die Schweiz sei «zutiefst besorgt» («Switzerland is deeply concerned»). 

Kritiker sagen, das unterschiedliche Wording sei auch deshalb bemerkenswert, weil die Schweiz als Hauptumschlagplatz des Petrogeldes aus Aserbaidschan eine besondere Verantwortung habe. 

Mit seiner Zurückhaltung stelle das Aussendepartement von Ignazio Cassis die Täter und die Opfer auf dieselbe Stufe, sagt Mitte-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, der im Präsidium der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Armenien sitzt. Gemeinsam mit der grünen Ständerätin Lisa Mazzone traf er vergangene Woche Aussenminister Ignazio Cassis. 

«Es ist nicht förderlich, Streitparteien zu verurteilen.»

Franz Grüter, Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates

Aus Sicht der parlamentarischen Gruppe verlief das Treffen enttäuschend. Dass die Schweiz sich mit einer Verurteilung zurückhalte, könnte er höchstens dann verstehen, wenn das Aussendepartement einen diplomatischen Plan hätte, um im Kaukasus zu vermitteln, sagt Müller-Altermatt. «Es ist aber nichts dergleichen in Sicht – nichts, was über das übliche Anbieten der Guten Dienste hinausgeht.»

Anders sieht es SVP-Nationalrat Franz Grüter, der Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates. «Im Moment muss die Vermittlerrolle im Zentrum stehen. Da ist es nicht förderlich, Streitparteien zu verurteilen», sagt Grüter. Aber auch Grüter kann nichts Konkretes dazu sagen.

Und was sagt Cassis’ Aussendepartement? Den russischen Angriff auf die Ukraine hat die Schweiz immer wieder klar verurteilt, jüngst zum Beispiel auch den Angriff auf die Polizei in Kosovo. Warum nicht die Aggression Aserbaidschans?

Cassis bietet Gute Dienste an

Das Aussendepartement (EDA) schreibt auf Anfrage, die Schweiz habe ihre «tiefe Besorgnis» zum Ausdruck gebracht. Sie fordere insbesondere eine dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten, eine Rückkehr zu Verhandlungen und den Zugang zu humanitärer Hilfe für die Bevölkerung. Zudem habe die Schweiz wiederholt die Achtung der Rechte der Armenier in Berg-Karabach gefordert und daran erinnert, dass das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte von allen Parteien unbedingt eingehalten werden müssten. 

Die Schweiz habe auch betont, dass die Anwendung von Gewalt nicht akzeptabel sei. Bundesrat Cassis habe die Haltung der Schweiz persönlich gegenüber den Aussenministern Armeniens und Aserbaidschans zum Ausdruck gebracht und die Guten Dienste der Schweiz angeboten.

Im EDA glaubt man dem Vernehmen nach, dass die Schweiz dank ihrer Erfahrung in der Region tatsächlich eine Rolle spielen könnte. Dass sich UNO-Botschafterin Baeriswyl im Sicherheitsrat derart zurückhaltend ausdrückte, stiess aber selbst EDA-intern teilweise auf Unverständnis und Kritik.

Weniger zögerlich ist die Schweiz bei der humanitären Hilfe. Das EDA gab diese Woche bekannt, dass die Schweiz zusätzlich rund 1,5 Millionen Franken für die humanitäre Hilfe vor Ort bereitstellt. Unterstützt werden das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und gewisse UNO-Unterorganisationen. Für die Geflüchteten sammelt auch das Hilfswerk Heks. Die Situation der Menschen aus Berg-Karabach sei dramatisch, schreibt es. Armenien sei aus eigener Kraft nicht in der Lage, allen Menschen Unterkunft zu geben und sie mit dem Nötigsten zu versorgen.