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Flugblattaffäre in Bayern
Söder lässt Aiwanger nach Auschwitz-Pamphlet im Amt – vorerst

Belastete Beziehung: Bayerns Wirtschaftsminister und Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bei einer Pressekonferenz im Dezember 2022.

Hat der bayerische Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger von den Freien Wählern noch das Vertrauen seines Koalitionspartners und das des Ministerpräsidenten Markus Söder? Akzeptiert die CSU die Erklärungen Aiwangers zu einem antisemitischen Flugblatt, das im Schuljahr 1987/88 in seiner Schultasche gefunden wurde? Ist die CSU bereit, die Regierung mit Aiwangers Partei fortzuführen, bis zur Landtagswahl am 8. Oktober und möglicherweise darüber hinaus?

Auf diese Fragen gibt es nun erste Antworten. Am Vormittag tagte der Koalitionsausschuss in München, anschliessend das Kabinett. Söder hatte eine Sondersitzung angesetzt, er habe Aiwanger und die Freien Wähler «einbestellt», heisst es. 

Bei der anschliessenden Pressekonferenz sagte Söder, das
antisemitische Hetzflugblatt sei ekelhaft und widerlich, es sei «übelster Nazijargon». Es sei nicht «bloss ein Jungenstreich oder eine Jugendsünde». Allein der blosse Verdacht schade dem Ansehen Bayerns.

Bisherige Erklärungen reichen nicht aus

Die Erklärungen, die Aiwanger bisher zu der Angelegenheit gegeben habe, reichten nicht aus. Man werde von ihm eine schriftliche Klärung der Vorwürfe einfordern, Aiwanger habe zugesagt, 25 diesbezügliche Fragen zu beantworten. Er habe auch sein Einverständnis erklärt, dass möglicherweise noch vorhandene Schulakten öffentlich gemacht würden.

Recherchen der «Süddeutschen Zeitung» reichten nicht aus, um eine Entlassung Aiwangers zu rechtfertigen. Es dürfe keine Vorverurteilung geben, es müssten jedoch «sämtliche Restzweifel» ausgeräumt werden.

Söder hatte – vor der Berichterstattung über das Flugblatt – stets gesagt, dass er die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen wolle. Am Montag, bei einem Wahlkampftermin in Landshut, betonte er erneut, dass er «eine bürgerliche Koalition in Bayern eindeutig behalten» wolle. Er strebe keine Staatsregierung an, an der die Grünen beteiligt seien. Das ist offenbar auch die Haltung in weiten Teilen der CSU. Söder betonte bei der Pressekonferenz erneut, dass die Zusammenarbeit mit den Freien Wählern «gut» sei.

Die Recherche rund um das Flugblatt

Aiwanger hatte am Samstag schriftlich zurückgewiesen, in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die «Süddeutsche Zeitung» erstmals am Freitagabend berichtet hatte. Er habe «das fragliche Papier nicht verfasst» und erachte den Inhalt als «ekelhaft und menschenverachtend».

Der Freie-Wähler-Chef räumte allerdings ein, es seien damals «ein oder wenige Exemplare» in seiner Schultasche gefunden worden. Ausserdem sei er in der Schule dafür bestraft worden. Das sei jedoch fälschlicherweise geschehen. Der wahre Verfasser des Papiers sei ihm bekannt und werde sich in Kürze selbst erklären.

Eine Stunde später meldete sich Aiwangers Bruder Helmut und bekannte sich als Verfasser. Zur Begründung, dass er das Flugblatt geschrieben habe, sagte er in den Zeitungen der Mediengruppe Bayern: «Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war.»

Aiwanger wollte angeblich «deeskalieren»

Am Montag darauf äusserte sich der Bruder des Ministers erneut. Dieses Mal ging es um das Verhalten Hubert Aiwangers zu jener Zeit. Angesprochen auf die Frage, warum dieser die Flugblätter in seiner Schultasche gehabt habe, sagte Helmut Aiwanger, sein Bruder Hubert habe womöglich damals die Flugblätter wieder eingesammelt, um zu «deeskalieren».

Ein Schriftgutachten im Auftrag der «Süddeutschen Zeitung» war zum Ergebnis gekommen, dass eine Facharbeit Aiwangers und das belastende Flugblatt «sehr wahrscheinlich auf ein und derselben Schreibmaschine geschrieben worden sind».

Bevor sich Aiwanger am Samstag schriftlich zur Angelegenheit äusserte, hatte er auf mehrfache Anfragen stets bestritten, mit dem Flugblatt in Verbindung zu stehen. Bis zur ersten Veröffentlichung am Freitag hatte die «Süddeutsche Zeitung» binnen elf Tagen dreimal bei Aiwanger angefragt. Sie konfrontierte den Minister unter anderem konkret mit dem Fund in der Schultasche und der Bestrafung, basierend auf den Erinnerungen mehrerer Zeugen.

Flugblatt war bereits ein Thema

Es gibt darüber hinaus Hinweise darauf, dass die Angelegenheit nicht erst jetzt nach 35 Jahren erstmals wieder auftauchte, sondern dass das Flugblatt im Umfeld Aiwangers in der Vergangenheit bereits Thema war.

Bereits 2008, dem Jahr, als die Freien Wähler zum ersten Mal in den Bayerischen Landtag einzogen, soll eine Abgeordnete im Auftrag Aiwangers ausgekundschaftet haben, ob aus der Geschichte noch Ärger zu befürchten sei. Sie soll dazu einen ehemaligen Lehrer besucht haben, der am Burkhart-Gymnasium Mallersdorf-Pfaffenberg unterrichtete, wo die Aiwanger-Brüder seinerzeit zur Schule gingen. Weder die Abgeordnete noch Aiwanger äussern sich dazu. Die Abgeordnete soll vor kurzem dann noch ein zweites Mal nachgefragt haben.

Der Lehrer habe 2008 erklärt, er gehe von einer «Jugendsünde» aus und sehe keinen Grund, die Disziplinarmassnahme gegen Hubert Aiwanger öffentlich zu machen. Er änderte seine Meinung jedoch nach Aiwangers Rede gegen das Heizungsgesetz im Juni in Erding. Damals forderte der Minister, dass sich die «grosse schweigende Mehrheit» die «Demokratie wieder zurückholen» müsse. Diese Rede, so der Lehrer, habe ihn bewogen, zu den Ereignissen um das Flugblatt nicht länger zu schweigen. Der Mann ist eine von mehreren Quellen, die die Recherchen übereinstimmend bestätigen.

Bald ist Landtagswahl

In Bayern wird am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt. Die letzten Umfragen, die jedoch sämtlich ebenfalls vor Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Aiwanger erhoben wurden, deuten darauf hin, dass CSU und Freie Wähler eine stabile Mehrheit bekommen könnten. In einer von der «Süddeutschen Zeitung» bei Forsa in Auftrag gegebenen Wählerbefragung Anfang August kam die CSU auf 39 Prozent. Die Freien Wähler lägen demnach gleichauf mit den Grünen bei 14 Prozent, die AfD kommt auf 13, die SPD auf 9 Prozent. FDP und Linke würden an der 5-Prozent-Hürde scheitern.