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Meinung

Papablog
«Ich will hier weg!»

Fluchtgedanken – auch wenn man eigentlich ganz glücklich ist. Wer kennt das nicht.
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«Reden wir nicht mehr darüber!», sagt er zu mir. Wir sitzen gemeinsam auf seinem Balkon, er bei einem Bierchen und ich bei einem Kaffee, und er hat mir gerade erzählt, dass er manchmal am liebsten seine Familie verlassen und alles hinschmeissen würde. Einfach so. Ich habe natürlich gefragt, ob alles in Ordnung sei und ob es irgendwelche Probleme gäbe. «Eigentlich nicht», hat er daraufhin gesagt. «Nicht mehr als sonst. Ich liebe die ganze Bande total.»

Also reden wir nicht mehr darüber und schweigen ein bisschen. Bis ich anfange, ihm von meinen Fluchtimpulsen zu erzählen und davon, dass mir einige Menschen in elterlicher Verantwortung über die Jahre gestanden haben, dass sie manchmal gegen das scheinbar übermächtige Gefühl ankämpfen, wegzumüssen. Dringend woanders sein zu wollen.

Bei manchen gab es ernsthafte Probleme. Bei drei oder vier schien es wirklich mit der berüchtigten Krise in der Lebensmitte zusammenzuhängen. Aber die Mehrheit war einigermassen glücklich und ziemlich überfordert von den sich ungebeten aufdrängenden Gedanken, ihre Liebsten zu verlassen. Und so ziemlich alle haben sich irgendwie schuldig gefühlt. Selbst diejenigen, die gute Gründe hatten, aus ihrem gewohnten Leben flüchten zu wollen.

Bekannte Schuldgefühle als Vater

Ich kenne diese Schuldgefühle. Sie sind garstig und hinterlistig und binden einem mit grösster Freude die schlimmstmögliche Version seiner selbst auf: So einer bist du also. Wie kann man nur so undankbar sein? Dass du dich nicht schämst!

Tatsächlich schäme ich mich dafür schon lange nicht mehr. Und falls es doch mal passiert, rede ich mit meiner Scham ein ernstes Wörtchen. Oder auch zwei. Das hält sie nicht gut aus. Meine Fluchtimpulse stammen hauptsächlich aus meiner DDR-Sozialisation. Ich war 10 Jahre alt, als die Mauer fiel. Die Wucht dieses Unrechtsstaats hatte auf mich demnach kaum einen Einfluss. Im Gegenteil: Meine Kindheit im Osten war durchaus auch von Freiheiten und Privilegien geprägt, die gleichaltrige Freunde und Freundinnen so nicht hatten. Ich durfte mich in einer Grossstadt schon als Grundschüler in einem Areal von etwa 5 km² frei bewegen. Angebote und Dinge, die es für Kinder gab, waren erschwinglich.

Aber es war eben auch eng und fremdbestimmt. Sehr eng. Selbst für ein kleines Kind wie mich. Meinem besten Freund sollte ich nach Aufforderung der Klassenlehrerin nämlich trotzdem ins Gesicht schlagen, weil er nicht bei den Pionieren mitmachen wollte. Und was es bedeutete, dass meine Eltern mit dem politischen System nicht einverstanden waren, erfuhr ich schon im Kindergarten.

Fliehkräfte existieren in jedem Leben

Gerade in der Endphase der DDR fühlte ich mich unfassbar eingesperrt. Ab dem Sommer 1987 schauten besagter bester Freund und ich regelmässig die TV-Serie «MacGyver» (Westfernsehen war in Ostberlin einfach nicht zu unterbinden) und versuchten, aus irgendwelchem Metallschrott, Kupferspulen und alten Bettlaken Fluchtvehikel zu konstruieren. Weder glaubten wir so richtig daran, dass es funktioniert, noch machten wir uns Gedanken darüber, wie es uns als Achtjährige im Westen ohne unsere Familien ergehen würde. Wir wollten einfach weg.

Dieser Fluchtimpuls hat mich nie verlassen. Ich trage ihn auch heute in mir, und ich muss irgendwie mit ihm umgehen. Es ist meine Aufgabe, mich ihm zu stellen und zu akzeptieren, dass er auch da ist, wenn es mir gut geht und ich nicht wegwill, während ich gleichzeitig das Gefühl habe, wegzumüssen. In jedem Leben existieren Fliehkräfte. Sie drohen einen aus den Verantwortlichkeiten und Routinen zu zerren – selbst aus denen, die man liebt. Es bringt nichts, sich selbst und andere dafür zu verurteilen. Besser dagegenhalten. Mit allem, was man hat.