Proteste im IranHöhere Opferzahl nach Brand im berüchtigten Ewin-Gefängnis
Im Ewin-Gefängnis in Teheran, wo politische Gefangene und regimekritische Demonstranten einsitzen, ist es zu einer Meuterei gekommen. Auf den Strassen im ganzen Land gehen die Proteste weiter.
Irans Justiz hat nach dem Brand im berüchtigten Ewin-Gefängnis in der Hauptstadt Teheran neue Todesopfer gemeldet. Vier weitere Inhaftierte seien im Krankenhaus gestorben, meldete die iranische Nachrichtenagentur Tasnim am Montag unter Berufung auf die Justiz. Damit liegt die offizielle Zahl der Todesopfer bei acht Gefangenen. Dutzende weitere Inhaftierte wurden verletzt. Beobachter befürchten eine noch höhere Opferzahl. Die landesweiten Massenproteste, die vor einem Monat durch den Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini ausgelöst wurden, gingen unterdessen weiter.
Videos in den Online-Netzwerken zeigten Flammen und eine Rauchwolke über dem für die Misshandlung von politischen Gefangenen berüchtigten Gefängnis im Norden der iranischen Hauptstadt. Aus dem riesigen Komplex waren auch Schüsse und Explosionen zu hören.
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Die staatliche Nachrichtenagentur Irna meldete «Unruhen» in dem Gefängnis. «Randalierer» hätten sich Zusammenstösse mit Gefängnisangestellten geliefert und das Kleiderlager der Haftanstalt in Brand gesteckt. Am späten Abend meldete die Justiz, das Feuer sei wieder gelöscht. Mit den Massenprotesten im Iran hätten die Zusammenstösse «nichts zu tun» gehabt, meldete Irna.
Menschenrechtsorganisationen berichteten von Solidaritätsprotesten mit den Ewin-Häftlingen in Teheran. Nach Angaben der Organisation Iran Human Rights (IHR) wurden umliegende Strassen gesperrt, um Proteste an der Haftanstalt zu unterbinden. Der Twitterkanal 1500tasvir, der regelmässig über die Proteste und Polizeigewalt im Iran berichtet, verbreitete ein Video, auf dem «Tod dem Diktator»-Rufe zu hören waren.
Hunderte Protestierende inhaftiert
In Ewin-Gefängnis sind Berichten zufolge hunderte Menschen inhaftiert, die während der Massenproteste festgenommen wurden. Auch der bekannte iranische Filmemacher Jafar Panahi und der Reformpolitiker Mustafa Tajsadeh sitzen im Ewin-Gefängnis. Unter den Häftlingen sind auch mehrere Ausländer oder Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft wie die französisch-iranische Forscherin Fariba Adelkhah.
Der US-Bürger Siamak Namazi blieb unverletzt, wie sein Anwalt Jared Genser unter Berufung auf die Familie mitteilte. Die australische Wissenschaftlerin Kylie Moore-Gilbert, die selbst lange im Ewin-Gefängnis festgehalten worden war, sagte der Nachrichtenagentur AFP, sie habe gehört, dass alle weiblichen politischen Gefangenen in Sicherheit seien.
Die USA haben sich besorgt über die dramatische Lage im Ewin-Gefängnis geäussert. «Wir verfolgen die Berichte aus dem Ewin-Gefängnis mit grosser Dringlichkeit», schrieb der Sprecher des US-Aussenministeriums, Ned Price, am Samstag auf Twitter. «Iran trägt die volle Verantwortung für die Sicherheit unserer zu Unrecht inhaftierten Bürger, die unverzüglich freigelassen werden sollten.»
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Teherans Staatsanwalt bestritt einen Zusammenhang mit den anhaltenden systemkritischen Protesten, die sich seit vier Wochen im Land ausgebreitet haben. Er betonte, es habe sich bei dem Zwischenfall am Samstag um einen internen Konflikt im Gefängnis zwischen verurteilten Dieben gehandelt.
Proteste gehen trotz Gewalt der Sicherheitskräfte weiter
Trotz des gewaltsamen Vorgehens der Behörden gegen Demonstranten sowie massiven Einschränkungen beim Internetzugang sind die fünfte Woche in Folge im Iran zahlreiche Menschen auf die Strasse gegangen. Bei einer Demonstration an der Schariati-Universität in der Hauptstadt Teheran riefen Frauen ohne Kopftücher Slogans wie «Die Mullahs sollen sich verziehen!», wie ein im Internet verbreitetes Video zeigte. Weitere Proteste wurden unter anderem aus Isfahan und Kermanschah gemeldet.
In der Stadt Hamedan, westlich von Teheran, wurden aus einer johlenden und pfeifenden Menge Wurfgeschosse auf Sicherheitskräfte geschleudert, wie von der Nachrichtenagentur AFP geprüfte Aufnahmen zeigten.
Laut dem Onlinedienst 1500tasvir riefen junge Frauen an einer Hochschule in Teheran «Freiheit, Freiheit, Freiheit», während sie ihre Kopftücher in der Luft schwenkten. Der Online-Kanal, der Proteste und Polizeiübergriffe dokumentiert, berichtete zudem von streikenden Ladenbesitzern in der Provinz Kurdistan und in Westaserbaidschan.
Angaben der in Norwegen ansässigen Menschenrechtsorganisation Hengaw zufolge begannen Schülerinnen im Dorf Ney in der Provinz Mariwan ihre Proteste, indem sie «Feuer legten und regierungsfeindliche Slogans anstimmten». Wie der Online-Monitor NetBlocks berichtete, wurden Demonstranten in auf Twitter geteilten Videos auf den Strassen der nordwestlichen Stadt Ardabil gesehen. Online verbreitetes Filmmaterial zeigte zudem demonstrierende Studenten an Universitäten in Teheran, Isfahan und Kermanschah.
«Pensionäre» der Revolutionsgarden sollen zusammenkommen
Als Reaktion auf die Proteste rief der Islamische Koordinationsrat für Entwicklung die Menschen im Iran dazu auf, «ihre revolutionäre Wut gegen Aufruhr und Randalierer auszudrücken». Wie ein Journalist der Zeitung «Schargh» berichtete, wurden zudem «Pensionäre» der Revolutionsgarden wegen der «aktuell heiklen Situation» gebeten, am Samstag zusammenzukommen.
Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Irna sagte ein Kommandeur bei dem Treffen, drei Mitglieder der Basidsch-Miliz seien seit Beginn der Proteste getötet und 850 weitere verletzt worden.
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell schrieb nach einem Telefongespräch mit dem iranischen Aussenminister Hossein Amir-Abdollahian im Kurzbotschaftendienst Twitter, die Menschen im Iran hätten das Recht, «friedlich zu protestieren und die Grundrechte zu verteidigen». Amir-Abdollahian hatte laut einer am Samstag veröffentlichten offiziellen Erklärung in dem Telefonat am Freitag den Europäern empfohlen, «das Thema mit einem realistischen Ansatz zu betrachten».
Wegen des gewaltsamen Vorgehens gegen Demonstranten im Iran hatten die EU-Länder sich am Mittwoch auf neue Sanktionen gegen Teheran geeinigt. Laut Diplomatenkreisen sollen die EU-Aussenminister die Strafmassnahmen am Montag bei einem Treffen in Luxemburg offiziell beschliessen.
Die Proteste im Iran waren durch den Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini ausgelöst worden. Die 22-Jährige war am 16. September in Teheran gestorben, nachdem sie dort drei Tage zuvor von der Sittenpolizei wegen des Vorwurfs festgenommen wurde, ihr Kopftuch nicht den Vorschriften entsprechend getragen zu haben.
Bei den seitdem andauernden Protesten sind nach Angaben der in Norwegen ansässigen Menschenrechtsorganisationen Iran Human Rights (IHR) bislang mindestens 108 Menschen getötet worden, darunter 28 Kinder.
SDA/ij
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