Wahlen in GraubündenFertig mit dem Bündner Sonderfall
Der Bergkanton tickt politisch anders als die Restschweiz. Jedenfalls war das bislang so: Am Sonntag wird es damit vorbei sein. Profitieren wird die SVP.
Einer Sitzung des Bündner Grossen Rats beizuwohnen, glich bis anhin einer Reise in die Vergangenheit. Man sah und hörte ein Parlament, in dem Fraktionen des bürgerlichen Zentrums den Ton angaben, die ganz Rechten hingegen fast nichts zu melden hatten – so wie vor einigen Jahrzehnten noch in den meisten kantonalen Legislativen, vor dem Aufstieg der SVP zur vielerorts stärksten Kraft.
Die ungewöhnliche Bündner Beständigkeit geht auf das besondere Wahlsystem zurück. Die Gewählten repräsentieren primär ihre Wahlkreise, in denen sie nach dem Mehrheitsverfahren (Majorz) bestimmt worden sind. Nur Graubünden und Appenzell Innerrhoden kennen den Majorz als Wahlsystem für ihre Parlamente. Dieser verschafft eingemitteten Kandidatinnen und Kandidaten einen natürlichen Vorteil gegenüber Polparteien.
Im 120-köpfigen Grossen Rat verfügt die dominierende Mitte-Partei – die aus der Fusion von BDP und CVP hervorgegangen ist – denn auch über fünfmal mehr Sitze als die SVP. Letztere ist die schwächste Fraktion, obschon sie bei den Nationalratswahlen (wo nach Proporz gewählt wird) in Graubünden den höchsten Wähleranteil erringt.
Der Abschied vom Majorz erfolgt nicht ganz freiwillig.
Mit diesem kantonalen Sonderfall hat es nun aber ein Ende. Am Sonntag steht in Graubünden ein politischer Umbruch an: Die Stimmbürgerinnen und -bürger wählen ihre Legislative erstmals nach einem neuen, proporzbasierten Verfahren. Der Abschied vom Majorz erfolgt nicht ganz freiwillig. Das Bundesgericht qualifizierte das Bündner System vor einigen Jahren als verfassungswidrig.
Die Folgen dürften einschneidend sein. Erwartet werden deutliche Zugewinne der SVP, in geringerem Ausmass auch der Linken. Die Mitte-Partei und die FDP werden ihre überragende Stellung dagegen verlieren.
Bald viel polarisierter
In der behäbig-solidbürgerlichen Bündner Lokalpolitik führt dies wohl zu einem Kulturwandel. Davon geht man jedenfalls bei der Zeitung «Südostschweiz» aus. «Der Grosse Rat wird nach den Wahlen viel polarisierter sein als bisher», sagt Reto Furter, Leiter der Chefredaktion. «Das könnte sich in verschiedenen Dossiers auswirken, etwa in der Klimapolitik: Mit einer gestärkten SVP wird es ein Green Deal schwerer haben. Auch die Toleranz gegenüber dem Wolf dürfte weiter sinken.»
Zu den eigentümlichen Konsequenzen des neuen Wahlsystems könnte überdies ein neuer Stadt-Land-Graben gehören. An der Einteilung in zahlreiche kleine Wahlkreise halten die Bündner nämlich fest – was am Wahltag womöglich eine brisante Kettenreaktion auslösen wird. Etliche Kreise verfügen nur über eine Einervertretung, die weiterhin nach Majorz gewählt wird.
Falls nun, was denkbar ist, die SP in vielen dieser Einerkreise nur knapp verliert, hätte sie proportional gesehen am Ende zu wenig Sitze. In diesem Fall müsste das in den grösseren Kreisen über Ausgleichsmandate bereinigt werden. Die Linke könnte in den städtisch geprägten Wahlkreisen insbesondere um Chur «mehr Sitze erhalten, als es ihrem dortigen Wähleranteil entspricht», sagt Reto Furter. Umgekehrt wären die ländlichen Teile bürgerlicher repräsentiert, als sie eigentlich ticken. Eine «heikle Situation», wie Furter sagt.
«Die SVP dürfte zulegen, allerdings fehlen ihr die ganz prominenten Namen.»
Oder fällt der Umbruch am Ende doch nicht gar so radikal aus? Der Politologe Clau Dermont weist auf verschiedene relativierende Faktoren hin: «Die SVP dürfte zulegen, allerdings nicht auf 30 Prozent wie bei den Nationalratswahlen. Es fehlen ihr dafür die ganz prominenten Namen wie Magdalena Martullo-Blocher.»
Auch die Linke mache vielleicht einige Sitze mehr, meint Dermont. Doch habe die SP schon bei den letzten Wahlen für ihre Verhältnisse sehr gut abgeschnitten. «Die FDP und die Mitte-Partei wiederum werden zwar verlieren. Doch haben sie den Vorteil, dass sie mit vielen Bisherigen antreten können, vor allem in den kleinen Wahlkreisen.»
Verbreitete Majorz-Nostalgie
Dermont begrüsst jedenfalls den Systemwechsel als «Schritt in die richtige Richtung». Alle Parteien seien fast überall im Kanton wählbar. «Die Bevölkerung hat also eine echte Auswahl, und das ist positiv.» Dermont erwartet eine etwas höhere Stimmbeteiligung als bei früheren Wahlen. Mittelfristig rechnet er damit, dass die grosse Zahl von 39 Wahlkreisen – eine Konzession an die Majorz-Befürworter – wieder zur Debatte stehen werde.
Majorz-Nostalgie ist freilich im Kanton noch weit verbreitet: insbesondere bei der Mitte-Partei, die sich auf Verluste einstellen muss. Dort geht gerne noch die Klage, dass «Persönlichkeiten» nunmehr weniger zählten als Partei-Ideologie. Diesen Kreisen dürfte das beschlossene Mischsystem den Abschied von der alten Zeit erleichtern. «In der Bevölkerung ist das neue Wahlsystem wohl gut akzeptiert», sagt Reto Furter. «Das ging eigentlich ziemlich schnell.»
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