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Ferdinand von Schirach kommt in die Schweiz
Der menschenscheue Bestsellerautor tritt zur One-Man-Show an

Ferdinand von Schirach zu Gast bei der Lit Cologne Spezial mit seinem neuen Buch Nachmittage am 5.10.2022 in Koeln Ferdinand von Schirach bei seinem Auftritt bei der Lit Cologne 2022 *** Ferdinand von Schirach as a guest at the Lit Cologne Special with his new book Afternoons on 5 10 2022 in Cologne Ferdinand von Schirach during his appearance at the Lit Cologne 2022 PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY

Wir waren damals rund 8 Millionen Zuschauende in der Schweiz, in Deutschland und Österreich und allesamt aufgerufen, als Laienrichter bei der TV-Aufführung von «Terror – Ihr Urteil» mitzuwirken, dem deutschsprachigen Fernsehereignis des Jahres 2016. Nach einer fiktiven Gerichtsverhandlung stimmten wir über Schuld oder Unschuld des Angeklagten ab. Ferdinand von Schirachs interaktives Dramendebüt «Terror» hatte schon 2015 Furore gemacht und wurde über mehrere Spielzeiten so häufig rund um den Globus inszeniert, als gäbs nichts anderes.

Nun hat der Berliner Schriftsteller mit «Regen – Eine Liebeserklärung» die Situation umgekehrt und einen furiosen Monolog für einen Laienrichter (in Deutschland auch als «Schöffe» bezeichnet) geschrieben. Seit Herbst ist er mit der One-Man-Show auf Tournee und tritt demnächst in Zürich, Basel und Bern auf. Der notorisch medien- und menschenscheue Autor von internationalen Bestsellern und erfolgreich verfilmten Drehbüchern gibt seiner eigenen Figur vor vollen Sälen Gestalt – und den typischen Schirach-Sound: lakonisch, ironisch und eminent les- beziehungsweise guckbar.

Das klingt dann ungefähr so: «Ich bin klatschnass. Ich stand zwanzig Minuten draussen, da drüben vor dem blauen Haus. Und die ganze Zeit regnet es schon.» Es folgen einige kluge Arabesken über Regen, White Noise und Pink Noise, bis wir schliesslich mit dem Schöffen am Restauranttisch sitzen und erfahren, dass auf den Treppenstufen eben jenes blauen Hauses eine junge Frau verblutet ist.

Der Schöpfer und sein Held sind – fast – identisch

Ihr Mann hat ihr im Streit ein Messer in den Hals gerammt; jetzt steht er vor Gericht. Welche Strafe geben Sie sich selbst?, hatte der Schöffe den Angeklagten am ersten Verhandlungstag gefragt. Daraufhin hatte ihn die Verteidigung der Voreingenommenheit bezichtigt. Deshalb verlangt die Richterin von ihm eine schriftliche Erklärung zu seiner Unbefangenheit. Also sitzt er jetzt da, draussen rauscht der Regen, drinnen der Strom seiner Gedanken.

Und wie! Teils scheint der Rant direkt aus dem Kopf seines Schöpfers aufs Blatt souffliert: In dem zu 49 Seiten ausgebauten älteren Interview, das der Luchterhand-Verlag an den 57-seitigen Bühnenmonolog angehängt hat, äussert sich Ferdinand von Schirach passagenweise fast identisch wie sein Held. So sind dessen Wahrnehmungen vertraut und ebenso die bewunderten Vorbilder und kunstgeschichtlichen Aperçus, von den antiken Philosophen über Goethe bis Hemingway und Thomas Mann, von alten Fortuna-Statuen über Botticelli bis Giacometti.

Der Schöffe ist mit 59 Jahren auch gleich alt wie sein Schöpfer heute, er hat sogar denselben Beruf: Schriftsteller. Freilich hat er nur einen einzigen Band veröffentlicht und nicht, wie von Schirach, über ein Dutzend in mehr als vierzig Ländern. Seine Frau starb früh an einem Aneurysma, er wurde das Schuldgefühl nicht los und hat seit diesem Tag nichts mehr geschrieben. Nun fühlt er sich angefasst von der Frage nach seiner Befangenheit und schaut zurück.

Ferdinand von Schirach: Regen – Eine Liebeserklärung. Luchterhand, 112 S., ca. 30 Fr.

Er erzählt etwa, wie er seine Frau in Athen kennen lernte und ihm kein guter Anmachspruch einfiel, nur Demokrits Sentenz «Alles, was existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit». Doch bevor wir erfahren, wie es weiterging, rattert der Erzähler uns durch ein grossartiges Ritardando aus Referenzen. Er rezitiert ein wunderbar misanthropisches Gedicht Gottfried Benns, das an von Schirachs eigene soziale Aversionen erinnert, die er im Interview schildert: Von Schirach empfängt keine Telefonate, spricht vor und nach Lesungen mit niemandem.

Sein Schöffe wiederum kritisiert Winston Churchills Überlegungen zur Einfachheit, verweist auf seine von Vilfredo Pareto abgeleitete «80 Prozent ist Mist»-Regel, auf Scott Fitzgerald und natürlich Hemingway. Er trauert über den heutigen Verlust von Heiligkeit und Zauber und erklärt anhand von naturwissenschaftlichen Studien, wie relativ Treue zu betrachten ist. Zwischendurch gibts schwarzhumorige Bissigkeiten über den modernen Menschen, der mit Rucksack durch seinen urbanen Alltag stapft und sich im Urlaub auf Fischkot aalt, sprich: weissen Stränden aus Fischexkrementen.

Wer glaubt, dass sich hier einer nonchalant vom Hölzchen zum Stöckchen bildungshubert, der irrt. Es fühlt sich leichthändig hingestreut an, was Ferdinand von Schirach nach 40-fachen, 50-fachen Überarbeitungen zu Papier gebracht hat. Doch das täuscht: Der erfahrene Ringer mit der Depression verpflastert seine Auseinandersetzungen mit Schmerz, Liebe, Tod und dem Zustand der Gesellschaft sehr sorgsam mit seinem intellektuellen Wundschutz. Ansonsten hält er sich, noblesse oblige, an die Regel «never complain, never explain». Kein Wort zu viel.

Der Grossvater war Hitlers Reichsjugendführer

Just so trifft von Schirach ins Herz seiner Leserschaft. Über 10 Millionen Bücher hat er schon verkauft, seit er mit Mitte vierzig (wieder) mit dem Schreiben begonnen hat und seine Erfahrungen mit dem Rechtssystem und der Welt in Fiktionen giesst.

Aufgehört hatte er mit 15, noch im Jesuiten-Internat, nachdem sein Vater, ein verhinderter Künstler, sich zu Tode getrunken hatte. Lieber suchte er nach bürgerlichem Halt, studierte Jura wie etliche seiner Vorfahren aus dem begüterten, deutsch-sorbischen Adelsgeschlecht derer von Schirach, wurde ein renommierter Strafverteidiger; einer seiner Mandanten war SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, der sich für die Toten an der Mauer verantworten musste. Dass Grossvater Baldur von Schirach Hitlers Reichsjugendführer war, ist eins der Themen, denen Ferdinand von Schirach sich schreibend gestellt hat – und kein Verriss hat ihn mehr verärgert als eine dumme Schlagzeile über seine angebliche «Grossvatersucht», sagt er im Interview.

Von alledem weiss sein Alter Ego nichts. Aber eines hat der Schöffe gelernt: «Wir alle sind befangen, weil wir in uns gefangen sind – und davon gibt es keine Erlösung, durch nichts und durch niemanden.» Endlich ist seine Schreibblockade vorbei. «Ich werde über die junge Frau schreiben, die mit einem Messer im Hals vor ihrem Haus verblutet ist.» Und er wird über seine eigene Frau schreiben, darüber «dass wir voneinander wussten und dass es in diesem Leben nur darum geht und um nichts anderes». Freispruch für den Schöffen.

20.1., Zürich, Kongresshaus; 22.1.,Basel, Stadtcasino; 26.1., Bern, Kursaal.