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Femizide in Italien
Ein Land ist entsetzt über massive Männergewalt

Milan - Flowers, teddy bears and notes in front of the home of Sofia Castelli, the girl killed by her ex-boyfriend in Cologno Monzese. Editorial Usage Only PUBLICATIONxNOTxINxITA Copyright: xPietroxRex/xIPAx Agenzia_Fotogramma_FGR3901855
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Die Flucht endete auf der Autobahn A9 in der Nähe von Leipzig. Dort fiel der Polizei ein unbeleuchtet am Strassenrand parkierender Fiat Punto auf. Darin sass der 22-jährige Italiener Filippo T., ihm waren Benzin und Geld ausgegangen. Seit einer Woche war der junge Mann europaweit gesucht worden.

Filippo T. steht im dringenden Verdacht, seine 22-jährige Ex-Freundin Giulia C. aus dem Ort Vigonovo in der Nähe von Venedig mit zahlreichen Messerstichen getötet zu haben. Die beiden waren seit Samstag vor einer Woche verschwunden, ihr Schicksal ist seit Tagen eines der wichtigsten Themen in den italienischen Medien.

Die beiden Studenten waren zuletzt gesehen worden, als sie in einem McDonald’s zu Abend assen. Die Studentin hatte an dem Tag einkaufen wollen für eine Party, die sie am folgenden Donnerstag anlässlich ihres Examens ausrichten wollte. Zudem sollte die Studentin der Medizintechnik noch ihre Abschlussarbeit abgeben. Dazu kam es nicht mehr, weil der Ausflug mit Filippo eskalierte.

Der Tod von Giulia C. erregt auch deswegen so viel Aufmerksamkeit, weil das Muster des Verbrechens bekannt ist.

Nach den Berichten war sie von ihm seit dem Sommer getrennt, hielt aber weiter Kontakt. Offenbar gab es eine Auseinandersetzung. Eine Überwachungskamera vor einem Unternehmen in einem ansonsten menschenleeren Industriegebiet zeichnete am vorletzten Samstagabend Handgreiflichkeiten auf. Die junge Frau versuchte aus dem Auto zu fliehen, wurde jedoch von dem Täter eingeholt und zu Boden geworfen, wo er auf sie einstach. Später lud er den leblosen Körper in den Kofferraum.

Tage später, am vergangenen Samstag, wurde die Leiche im Friaul an einer unwegsamen Stelle im Gebirge gefunden. Die Routen dort stehen wegen der zu erwartenden Schneefälle vor der Sperrung; Es hätte leicht sein können, dass die Leiche länger nicht gefunden worden wäre. Filippo T. setzte seine Flucht nach Norden fort, er wurde noch mehrfach in Österreich gesichtet, wo er an einer Tankstelle mit einem blutverschmierten Geldschein bezahlte, dann tauchte er erst wieder in Deutschland auf, wo er nun in Auslieferungshaft sitzt.

Die Fälle ereignen sich häufig im gutbürgerlichen Milieu

In Italien erregt das Schicksal von Giulia C. auch deswegen so viel Aufmerksamkeit, weil das Muster des Verbrechens ähnlich ist wie in vielen anderen Fällen der vergangenen Monate und Jahre. Allein seit Anfang 2023 wurden nach Auskunft des Innenministeriums in Rom 102 Frauen getötet, in 82 Fällen kamen die Täter aus dem unmittelbaren Umfeld, waren Familienmitglieder, Freunde oder Ex-Partner.

Milan - Torchlight vigil in memory of Sofia Castelli, the girl killed by her ex-boyfriend in Cologno Monzese. Milan - Torchlight vigil in memory of Sofia Castelli, the girl killed by her ex-boyfriend in Cologno Monzese. Editorial Usage Only Milan Italy PUBLICATIONxNOTxINxFRAxESPxUKxUSAxBELxPOL Copyright: xIPA/ABACAx BRIPA20230802_271 IPA/ABACAx BRIPA20230802_271

Häufig spielen die Fälle im gutbürgerlichen Milieu, die Beziehungen wirkten vorher unproblematisch, die männlichen Täter werden häufig als bis dahin unauffällig und sympathisch beschrieben.

Im konkreten Fall könnten Eifersucht und Verlassensangst eine Rolle gespielt haben, folgt man den Äusserungen von Familienmitgliedern. Giulia plante, nach dem Examen wegzuziehen und einen Zeichenkurs zu belegen. Offenbar konnte sich ihr Studienfreund damit nicht abfinden und versuchte, sie von ihren Plänen abzubringen.

Männer müssten erzogen werden, «inakzeptable Formen des Umgangs mit Mädchen und Frauen» aufzugeben, fordert ein Experte.

Verstärkt wird in Italien darüber diskutiert, inwieweit hinter der erschreckenden Serie von Gewalt gesellschaftliche Probleme stehen, die typisch für Italien sein könnten. Häufig ist von «Machismo» die Rede, der die italienische Gesellschaft mehr präge als andere.

Claudio Mencacci, Präsident der italienischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Ehrenpräsident der Gesellschaft für Psychiatrie, plädierte im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Ansa dafür, die Perspektive auf das Thema zu verändern. Bisher sei es vor allem darum gegangen, Frauen für gefährliche Situationen zu sensibilisieren.

Es sei aber mindestens so wichtig, Männer zu erziehen, «inakzeptable Formen des Umgangs mit Mädchen und Frauen» aufzugeben und eine «archaische Kultur» zu überwinden, die tief verwurzelt sei und «auf der Logik der Unterdrückung und des Besitzes gegenüber dem weiblichen Geschlecht» basiere. In den Schulen müsste Unterricht in Gefühlen und zwischenmenschlichen Beziehungen genauso wichtig werden wie Italienisch und Mathematik.

Appell der Oppositionsführerin Schlein

Auch die italienische Politik ist alarmiert, in der erstmals nicht Männer, sondern zwei Frauen an der Spitze der beiden grossen Parteien stehen. Oppositionsführerin Elly Schlein vom sozialdemokratischen PD appellierte an Regierungschefin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia, den parteipolitischen Streit zu überwinden und gemeinsam gesetzliche Massnahmen zu beschliessen gegen männliche Gewalt.

Der Präsident der Region Venetien, Luca Zaia, kündigte an, dass am Tag der Beerdigung von Giulia C. in den Schulen das Problem der Femizide in Italien diskutiert werden soll.