St. Pauli vor Bundesliga-AufstiegKita, Rotlicht, Totenkopf – der Kultclub macht fast alles anders
Der Quartierverein aus Hamburg geht im Fussball gern ungewöhnliche Wege und hat damit Erfolg. Kein anderer Club ist beim Geldsuchen so kreativ – und so trotzig.
Das Heiligengeistfeld, eine Betonwiese, auf der dreimal jährlich der Hamburger Dom stattfindet, der grösste Jahrmarkt Norddeutschlands. Riesenrad, Achterbahnen, Alkohol. Gleich nebenan liegt die Reeperbahn, Deutschlands bekannteste Ausgehmeile. Laut, wild, Rotlicht.
Mittendrin im Getümmel: das Millerntor-Stadion. Die Heimat des FC St. Pauli, aktuell Leader der 2. Bundesliga und auf bestem Weg in die Erstklassigkeit. Das Team des deutsch-schweizerischen Jungtrainers Fabian Hürzeler dominiert die Liga und musste in 26 Spielen erst 2 Niederlagen hinnehmen.
Dem Hamburger Club bietet sich nach 13-jähriger Absenz die Chance, wieder in die 1. Bundesliga aufzusteigen. Es wäre die Rückkehr des Vereins mit dem Totenkopf-Emblem, der in vielen Bereichen im Anderssein geübt ist. Ein Müsterchen dazu? Die vereinseigene Kita im Stadion.
Gross geworden ist der Club im Chaos. In den 80er-Jahren bildete sich rund um die besetzten Häuser an der Hamburger Hafenstrasse eine alternative Fankultur, die sich den Club des Viertels als Objekt der Begierde aussuchte. An vielen anderen Orten in Fussballdeutschland waren die Fanszenen von Hooligans geprägt, die durch ihr autoritär-nationalistisches Verhalten und durch gewalttätige Auseinandersetzungen mit anderen Fans auffielen.
Dies betraf auch den damals erfolgreicheren Stadtrivalen St. Paulis, den Hamburger SV, dessen Stadion zum Ort von Gewalt und rechtsextremen Parolen wurde. Im Gegensatz dazu bildete sich auf St. Pauli eine linksalternative Fangruppe, die durch die Abwesenheit von Gewalt und Neonazis stetigen Zuwachs erfuhr.
Doch noch war der Kiezclub kein Kultclub, noch war er weit weg davon, eine nationale Präsenz zu besitzen. Vielmehr kämpfte er sich nach der Insolvenz gerade von der vierthöchsten Spielklasse zurück in die 2. Bundesliga. Durchschnittlich fanden rund 2000 Fans den Weg ins Stadion, Millerntor genannt. Dieser Schnitt sollte sich innerhalb von 10 Jahren zeitweise verzehnfachen. Heute kommen in der Regel 29’500 Fans pro Spiel. Der Club ist links geblieben.
Eigene Trikotmarke wird eingestellt
Diese (gesellschafts-)politische Einstellung dringt immer wieder und deutlich durch. Da wäre etwa die eigene Trikotmarke DIIY. Kein externer Anbieter konnte den Nachhaltigkeits- und Fairnesskriterien des Vereins gerecht werden, deshalb nahm er die Produktion selbst in die Hand. Ab der neuen Saison wird die Marke aber vorerst wieder verschwinden, Puma wird Ausrüster, übernimmt die Lizenz der Eigenmarke DIIY und die vom FC St. Pauli aufgebauten Produktionswege.
Der Vertrag mit dem deutschen Sportartikelhersteller spült dringend benötigtes Geld in die Vereinskassen, denn St. Pauli ist in finanzieller Hinsicht aktuell kein Erfolgsmodell. Der Verlust im Geschäftsjahr 2020/21 von 5,74 Millionen Euro war teilweise durch Corona zu erklären, doch auch zwei Jahre später vermeldeten die Hamburger ein Minus von 4,9 Millionen Euro.
Grossinvestoren kommen auf St. Pauli trotzdem nicht infrage. Stattdessen plant der Verein die Gründung einer Genossenschaft, um die Geldprobleme zu lösen. Dieser Vorschlag erfährt viel Zuspruch von den Vereinsmitgliedern, die sich in einer Umfrage dazu äussern können, wie viel ein Anteil kosten soll. Wie die Umsetzung des Genossenschaftsmodells aussieht, wird sich wohl noch in diesem Jahr zeigen. Ein ähnlicher Plan lag 2018 schon einmal vor, wurde jedoch wegen steuerlicher Probleme nicht weiterverfolgt.
Die Rettung des Clubs
Es ist eine weitere Episode von der ungewöhnlichen und ständigen Suche eines Fussballvereins nach Kapital. Besonders erwähnenswert ist die geschickte Verwendung von Merchandise-Produkten. 2002 besiegte der kleine Kiezclub den damaligen Weltpokalsieger Bayern München sensationell, er liess daraufhin Leibchen drucken mit der Aufschrift «Weltpokalsiegerbesieger». Der Plan sah vor, 400 Stück zu verkaufen – daraus wurden 25’000.
Und als dem Kiezclub im Jahr 2003 die Insolvenz drohte, liess man Shirts mit der Aufschrift «Retter» bedrucken. 130’000 Shirts verkaufte man davon, daraus resultierte ein Reingewinn von 1’149’000 Euro. Es half dem Verein, die Lizenz zu kriegen.
Im ersten Jahr unter der Eigenmarke DIIY vermeldete der FC St. Pauli mehr als 30’000 Trikotverkäufe, dazu kamen rund 22’000 andere Merchandise-Utensilien wie Shirts und Hoodies. Nur fünf Teams in Deutschland, alle aus der 1. Bundesliga, setzten da beim Merchandising mehr Geld um als St. Pauli.
«Der Durchschnitt des Merchandise-Anteils am Gesamtumsatz bei den Teams in der 2. Bundesliga liegt bei 6 bis 7 Prozent, bei St. Pauli liegt dieser bei 17,6», sagt Sportmarketing-Experte Peter Rohlmann und fügt an: «Bayern München, der umsatzstärkste deutsche Club im Bereich Merchandising, hat einen Anteil von 15,6 Prozent. Das allein zeigt auf, dass der FC St. Pauli eine mit seinen Werten akzeptierte Gemeinschaft ist, die über den Fussball hinausgeht.»
Bei den Hamburgern steht der sportliche Erfolg nicht immer an erster Stelle, dennoch scheint das Konzept des Kiezclubs zumindest in dieser Saison aufzugehen.
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