Neue Taskforce-Chefin im Interview «Fast alle Kinder werden mit dem Coronavirus in Berührung kommen»
ETH-Professorin Tanja Stadler sagt, was uns im Pandemie-Herbst erwartet. Und warum sie ihre Zeit lieber für die Wissenschaft nutzt, als mit Verschwörungstheoretikern zu diskutieren.
Frau Stadler, Sie sind neu Chefin der Taskforce. Diejenige, die uns wissenschaftlich durch die Normalisierungsphase begleitet. Fühlen Sie sich wohl dabei?
Wir möchten alle zur Normalität zurückkehren, und die Impfung ist auf dem Weg dahin eine riesige Chance. Ab dem Zeitpunkt, an dem alle, die nicht geimpft sind, sich wirklich bewusst gegen die Impfung entschieden haben, muss sich die Strategie im Umgang mit dem Virus ändern. Danach kann es nicht mehr das Ziel sein, die Nichtgeimpften vor einer Infektion zu schützen. Wer sich bei einer derart starken Verbreitung des Virus gegen die Impfung entscheidet, nimmt in Kauf, dass er oder sie angesteckt wird.
Haben sich wirklich alle Ungeimpften bewusst dagegen entschieden?
Leider fehlt es in der Schweiz an Daten dazu. In anderen Ländern wurden den Menschen zum Beispiel direkt Impftermine angeboten, die sie dann ablehnen konnten. Dann ist klar, dass jemand die Impfungen nicht will. In der Schweiz ist das nicht so eindeutig. Umfragen weisen darauf hin, dass wir noch nicht an dem Punkt angelangt sind, an dem sich alle Ungeimpften bewusst gegen eine Impfung entschieden haben.
Der Bundesrat hat die Normalisierung also zu früh ausgerufen?
Natürlich kann man darüber streiten, an welchem Tag genau er die neue Phase hätte ausrufen sollen. Aus meiner Sicht ist der Übergang fliessend. Im Juni wäre es viel zu früh gewesen, in einigen Monaten zu spät. Der Bundesrat hat nun im Graubereich dazwischen die Normalisierung beschlossen, nicht aber die Massnahmen weiter gelockert.
«Ich wünschte mir, die Impfquote wäre höher, und ich hoffe, sie lässt sich noch steigern.»
Sie haben vor Monaten zugesagt für den Job als Taskforce-Chefin für die Normalisierungsphase. Damals war noch nicht absehbar, dass die Schweiz die schlechteste Impfquote Westeuropas haben würde.
Ich wünschte mir, die Quote wäre höher, und ich hoffe, sie lässt sich noch steigern. Es war aber von Anfang an klar, dass die neue Phase nicht an eine Impfquote gekoppelt wird, sondern nur daran, dass alle Erwachsenen die Chance gehabt haben, sich zu impfen. Hätte man eine Quote zur Bedingung gemacht, könnte die Normalisierung vielleicht nie eingeleitet werden. Definitiv anders als zum Zeitpunkt, als ich für den Job zugesagt habe, ist die Situation mit den Virusvarianten.
Sie meinen Delta?
Ja. Wir kannten Delta im Frühjahr bereits, wussten aber wenig über seine Eigenschaften. Inzwischen haben wir viel gelernt und müssen klar sagen: Delta stellt uns momentan vor grosse Herausforderungen.
Was ist aus Sicht der Taskforce genau das Problem?
Dass sich diese Variante deutlich leichter überträgt und dass sie zum Teil auch doppelt geimpfte Personen anstecken kann. Es gibt aber auch gute Nachrichten: Die Impfungen schützen bei Delta nach wie vor sehr gut vor einem schweren Krankheitsverlauf.
Keine Rücksicht mehr auf Ungeimpfte, es zählt nur noch, dass die Spitäler funktionieren: Kann der Plan des Bundesrates mit Delta und einer Impfquote von 50 Prozent aufgehen?
Wir werden erst über die Pandemie hinweg sein, wenn wir in der ganzen Bevölkerung eine gewisse Immunität haben. Das passiert entweder über die Impfung oder die Ansteckung. Die Frage ist jetzt, wen oder was schützen wir noch auf dem Weg dahin? Bisher war das Ziel, die Menschen vor einer Infektion zu schützen, bis diese die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen. Dieses Ziel entfällt nun für Erwachsene, die sich bewusst gegen die Impfung entschieden haben. Das gilt aber nicht für die Kinder und auch nicht für Erwachsene, bei denen die Impfung nicht wirkt oder die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen konnten. Diese Gruppe müssen wir weiter schützen. Gleichzeitig müssen wir schauen, dass die Spitäler nicht überlastet werden, wenn sich in grossem Stil ungeimpfte Personen infizieren, wie wir das momentan beobachten.
Was für eine Impfquote brauchen wir, damit das ausgeschlossen werden kann?
Es hängt davon ab, wie schnell sich die Ungeimpften infizieren. Aktuell sind in der Schweiz in den meisten Altersgruppen noch mindestens so viele Personen nicht immun, wie sich während der gesamten Pandemie schon infiziert haben. Wenn sich diese alle über einen kurzen Zeitraum anstecken, kann das System schnell überlastet werden. Wenn es mit den Ansteckungen sehr lange dauert, nicht. Deshalb braucht es weiterhin gewisse Massnahmen, um die Dynamik der Ansteckungen in Schach zu halten.
«Wenn sich die Ansteckungen weiter alle rund zwei Wochen verdoppeln, kommt das Gesundheitssystem an Grenzen.»
Wird uns das im Herbst und im Winter gelingen?
Wenn sich die Ansteckungen weiter alle rund zwei Wochen verdoppeln, kommt das Gesundheitssystem an Grenzen. Wenn wir aber sowohl die Dynamik der Ansteckungen verlangsamen als auch beim Impfen an Tempo zulegen, kann es gelingen.
In Israel ist die Durchimpfung viel höher als in der Schweiz, und trotzdem bereitet sich das Land schon auf die Überlastung des Gesundheitssystems vor.
Wenn die Zahl der Infektionen immer weiter steigt, droht auch uns dieses Szenario. Im letzten Januar landeten über alle Altersklassen hinweg noch ungefähr 5 Prozent der Infizierten im Spital, jetzt sind wir dank der Impfungen bei 2 Prozent. Das ist gut, reicht aber nicht, um bei sehr vielen Fällen eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern.
Was kann der Bundesrat bei drohender Überlastung noch tun? Scharfe Massnahmen für die gesamte Bevölkerung schliesst er aus.
Ich finde es sinnvoll, die Masken im öffentlichen Verkehr und in den Läden sowie andere nicht so einschränkende Basismassnahmen vorerst beizubehalten. Nicht für immer, aber solange eine Überlastung des Gesundheitswesens droht. Das hilft gleichzeitig die Kinder und andere Personen, bei welchen die Impfung nicht wirkt oder welche nicht geimpft werden können, in einer kommenden Welle zu schützen. Und es gibt weitere Möglichkeiten, um gezielt zu reagieren.
Also ein Zertifikat nur noch für Geimpfte und Genesene, das an viel mehr Orten zur Pflicht wird?
Wir diskutieren in der Taskforce verschiedene Möglichkeiten in diese Richtung. Klar ist, alle haben Vor- und Nachteile. Unser Ziel ist es, diese aufzuzeigen. Entscheiden muss dann die Politik.
«Klar ist, es gibt auch andere Viren, welche für die Kinder gefährlich sind.»
Ist es vertretbar, die Normalisierung auszurufen, obwohl Kinder unter 12 noch nicht geimpft werden?
Es gibt viele Diskussionen darüber, ob Sars-CoV-2 für Kinder so gefährlich ist, dass spezielle Schutzmassnahmen notwendig sind. Klar ist, es gibt auch andere Viren, welche für die Kinder gefährlich sind. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass fast alle Kinder mit dem Coronavirus in Berührung kommen werden. Bei einer so grossen Zahl von Infektionen wird es schwere Fälle geben. Im Vergleich mit anderen Viren scheinen die Akutfolgen für Kinder jedoch selten zu sein – zumindest für die Varianten vor Delta. Von Langzeitfolgen sind gemäss einer Schweizer Studie 2 Prozent der Kinder betroffen.
Das wären nicht so viele.
Das tönt tatsächlich nach wenig. Bei einer Durchseuchung aller Kinder wäre das aber trotzdem eine beträchtliche Zahl von Langzeitfällen. Nur, auch einschneidende Massnahmen wie Schliessungen, Isolation und Quarantäne haben Auswirkungen. Die Schweiz hat es bisher grösstenteils geschafft, die Schulen offen zu halten. Das ist extrem wichtig für die Kinder. Daher plädiere ich für nicht einschneidende Massnahmen an Schulen wie CO₂-Sensoren und Luftfilter sowie Masken für die grösseren Kinder und engmaschige Testung, um das Risiko grosser Ausbrüche zu reduzieren.
Und was ändert sich mit Delta?
Aus Ländern mit sehr grossen Ansteckungszahlen erreichen uns Berichte über mehr Kinder in Spitälern. Es ist jedoch noch unklar, ob und wie viel gefährlicher Delta für Kinder ist. Genaueres dazu werden wir wohl in den nächsten Wochen erfahren.
Das zeigt einmal mehr, vieles ist bei Corona höchst unsicher. Sie haben bislang die Gruppe der Taskforce geleitet, die für die Prognosen zuständig war. Machen diese überhaupt Sinn?
Wir versuchen seit Ausbruch der Pandemie anhand der Daten aufzuzeigen, was passieren kann, was mögliche Szenarien sind und welche Risiken bestehen – wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche. Dies erlaubt der Politik, informierte Entscheidungen zu treffen. 100 Prozent sichere Prognosen, wie dies manche gern hätten, kann die Wissenschaft leider nicht bieten.
Die Taskforce wird aber nicht wie vor bald einem Jahr nochmals eine Anzahl Tage nennen, die es angeblich bis zur Überlastung der Spitäler dauert?
Im letzten Herbst wurde auf den Grafiken immer erwähnt, dass es ein Unsicherheitsintervall gibt. Mein Vorgänger Martin Ackermann hat auch jeweils gesagt, dass die Überlastung nur dann eintritt, wenn sich das Verhalten der Menschen und die Massnahmen nicht ändern. Die Politik hat damals lange gezögert, und unser Ziel war es, der Öffentlichkeit aufzuzeigen, dass die Lage sehr kritisch wird. In den Spitälern wurde es dann tatsächlich sehr ernst. Die zertifizierten Intensivbetten waren voll, und mehr als die Hälfte der Patienten auf den Intensivstationen waren Covid-19-Patienten. Sehr viele Eingriffe wurden deswegen verschoben und müssen bis heute nachgeholt werden. Wir werden auch in Zukunft die Risiken aufzeigen, jedoch in der Kommunikation verstärkt darauf achten, dass unsere Szenarien zusammen mit den Unsicherheiten betrachtet werden.
Im Gegensatz zur Schweiz setzen andere Länder auf wissenschaftliche Berater, die direkt bei den Behörden angesiedelt sind. Ist dies das bessere Modell?
Ich finde das Schweizer Modell gut. Unsere Taskforce hat den Vorteil, ein sehr breit aufgestelltes Expertengremium zu sein, das national und international gut vernetzt ist. Unsere Aufgabe ist, die Forschung voranzubringen und die weltweit neuen Erkenntnisse darzulegen. Durch die Unabhängigkeit können wir transparent und ohne Interessenkonflikt den Wissenschaftsstand aufzeigen. Gleichzeitig pflegen wir mehrmals wöchentlich einen engen Austausch mit den Expertinnen und Experten wie auch dem Leitungsteam des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) und engen Mitarbeitern von Bundesrat Berset.
Vor den Lockerungen im Frühjahr hatte die Taskforce aber angeblich seit Wochen keinen Kontakt mehr zum Bundesrat.
Mein Vorgänger hatte damals zwar länger keinen direkten Kontakt mehr zu Bundesrat Alain Berset, aber der Austausch mit der Spitze des BAG, Vertretern des Krisenstabs und dem Stab von Bundesrat Berset war sehr intensiv.
«Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, zu wissen, was der aktuelle Stand der Wissenschaft ist und welche möglichen Gefahren drohen.»
Die Taskforce erhält Geld vom Bund. Die meisten Forschenden werden mit Bundesgeldern gefördert. Und einzelne Mitglieder sind auch für die Industrie tätig. Wie unabhängig ist denn das Gremium tatsächlich?
Die Schweiz unterstützt tatsächlich die Forschung sehr grosszügig. Das war auch ein Grund, warum so viele Forschende bereit waren, ehrenamtlich für die Taskforce zu arbeiten. Wir setzen uns aber deswegen nicht weniger kritisch mit den Massnahmen des Bundes auseinander. Natürlich gibt es vereinzelt Verbindungen zur Industrie. Diese sind alle auf der Website offengelegt, und ich glaube, dass diese in diesem Fall keine Rolle spielen.
In kritischen Momenten wurde von Politikern wiederholt ein Maulkorb für die Taskforce verlangt. Werden Sie sich als Präsidentin deshalb zurücknehmen?
In unserer offenen Gesellschaft ist es zentral, dass Informationen und Wissen transparent verfügbar sind. Deshalb werden wir als Taskforce unsere Erkenntnisse immer sowohl den Behörden als auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, zu wissen, was der aktuelle Stand der Wissenschaft ist, welche möglichen Gefahren drohen und welche Möglichkeiten es gibt, darauf zu reagieren. Solches Wissen trägt dazu bei, dass die Schweizerinnen und Schweizer auch eigenverantwortlich handeln können, wie es in dieser Pandemie oft von ihnen verlangt wurde.
Der Bundeskanzler hat kürzlich im Gespräch mit dieser Zeitung von einem angespannten Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik gesprochen. Wie sehen Sie das?
Was die Pandemie betrifft, ist der Austausch zwischen Taskforce und Behörden inzwischen sehr eng. Das angeblich angespannte Verhältnis wird aus meiner Sicht in der Öffentlichkeit überzeichnet. Fakt ist aber, dass Wissenschaft und Politik ganz anders funktionieren. Die Politik kann vielfach nicht einfach umsetzen, was die Wissenschaft als eine gute Lösung aufzeigt – aus unterschiedlichsten Gründen. Das mag manchmal frustrierend sein, aber deshalb ist es umso wichtiger, dass beide Seiten miteinander reden und aufeinander einzugehen versuchen, um die Hürden auf der jeweils anderen Seite zu verstehen und gemeinsam Lösungen zu finden.
«Das Drängen der Hersteller ist erst mal kein Grund für Auffrischungsimpfungen.»
Spannungen gibt es auch zwischen Wissenschaft und Teilen der Gesellschaft. Wie erleben Sie das?
Ich spüre, dass die Meinungen in der Gesellschaft stark auseinandergehen. Ich erhalte Post aus allen Lagern. Bis zu einem gewissen Grad versuche ich auf Kritik einzugehen. Zumindest solange eine gemeinsame Basis besteht. Bei Menschen, die die Existenz des Virus leugnen oder die Pandemie für eine Verschwörung halten, beisse ich auf Granit. Da setze ich meine Energie und Zeit lieber für die Wissenschaft ein.
Das Virus hat uns in den letzten eineinhalb Jahren immer wieder überrascht. Was kommt als Nächstes?
Fakt ist, das Virus bleibt in unserer Gesellschaft. Erreichen müssen wir, dass wir trotzdem wieder ohne Einschränkungen leben können – so wie bei anderen Viren auch. Auf dem Weg dahin müssen wir zwei mögliche Entwicklungen genau beobachten. Erstens können neue Varianten auftreten, die den Impfschutz in Bezug auf Hospitalisierungen oder Long Covid umgehen. Zweitens ist unklar, wie lange mit den heutigen Varianten der Impfschutz anhält.
Ist so eine neue Variante erkennbar?
Es gibt sehr viele Varianten, und es entstehen laufend neue. Stand heute gibt es aber bei keiner Variante Indizien dafür, dass sie Delta verdrängen könnte. Allerdings kann sich das sehr schnell ändern – vor allem, weil es weltweit zu Millionen Ansteckungen kommt.
Die Impfhersteller drängen auf Auffrischungsimpfungen. Zu Recht?
Hier brauchen wir transparente Daten. Das Drängen der Hersteller ist erst mal kein Grund. Wir wissen in der Schweiz noch zu wenig über die Impfdurchbrüche für eine klare Antwort. Daten aus anderen Ländern sind leider nur begrenzt auf unsere Situation übertragbar. Es wurden unterschiedliche Impfstoffe verabreicht, in unterschiedlichen Abständen, die unterschiedlich lange her sind. Im Herbst wird die dritte Dosis aber sicherlich immer mehr zum Thema werden.
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