Fangewalt in der SchweizEs kommt zum Knall zwischen Fussballclubs und Politik
Was eine gemeinsame Lösung für friedlichere Fussballspiele werden sollte, endet im Zerwürfnis – die professionellen Clubs lehnen das sogenannte Kaskadenmodell ab.
Es ist ein Scherbenhaufen. Wieder einmal. Dabei klang das vor exakt einem Jahr ausgegebene Ziel so vernünftig. Alle Beteiligten sollten miteinander darüber reden, wie Gewalt rund um Fussballspiele verhindert werden kann. Das Ziel: einheitliche Massnahmen in der ganzen Schweiz, die von jeder Seite verstanden und deshalb auch akzeptiert werden.
Heute steht fest: Die Fronten zwischen Sicherheitsbehörden und fussballnahen Kreisen sind so verhärtet wie lange nicht mehr. Am Donnerstagmorgen hat die Swiss Football League der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen (KKJPD) mitgeteilt, dass sie nicht mehr bei der Ausarbeitung des sogenannten Kaskadenmodells mitmacht. Dabei hätten am Nachmittag eigentlich einvernehmlich die neuen Massnahmen für friedliche Fussballspiele vorgestellt werden sollen, an denen seit einem Jahr gearbeitet wird.
«Nicht zielführend, einseitig, unverhältnismässig»
In der Swiss Football League (SFL) sind die 22 Clubs der beiden höchsten Schweizer Ligen vereint. Sie stören sich vor allem daran, dass die Behörden in letzter Zeit immer wieder Fansektoren schliessen liessen. Das Urteil von Claudius Schäfer ist hart. Der CEO der Liga sagt: «Das Kaskadenmodell ist nicht zielführend, einseitig und unverhältnismässig.»
Lieber wollen die Vereine auf lokaler Ebene mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten und wieder verstärkt auf Prävention setzen. Also so, wie es bis vor den Diskussionen um eine schweizweite Lösung der Fall war.
Die Haltung der Clubs kann zwar nicht verhindern, dass die Politik ihre Pläne weiter umsetzt. Entsprechend soll das Kaskadenmodell trotz der Kritik der Liga ab der kommenden Saison eingeführt werden.
Die Nidwaldner Regierungsrätin Karin Kayser-Frutschi sagt: «Ich bedaure, dass wir das Modell nicht gemeinsam einführen können.» Aber die Co-Präsidentin der KKJPD hält auch fest: «Es ist auch unsere Aufgabe, die Erwartung der Gesellschaft aufzunehmen, die Gewalt rund um Fussballspiele nicht mehr akzeptiert – und auch nicht mehr bereit ist, die Kosten zu tragen.»
Für professionelle Fussballspiele braucht es in der Schweiz eine Bewilligung, für die je nach Standort die städtischen oder die kantonalen Behörden zuständig sind. Diese können also weiterhin Spiele untersagen, Sektorschliessungen anordnen oder die Anreise von Gästefans verbieten.
Aber der nun offiziell vollzogene Bruch zwischen Fussball und Politik lässt jede Hoffnung schwinden, dass die neuen Regeln konfliktfrei durchgesetzt werden können. Die organisierten Fans in den Kurven wehren sich sowieso schon vehement gegen die Einführung des Kaskadenmodells. Dieses soll Massnahmen und Strafen für Vergehen rund um Fussballspiele festlegen – mit steigender Härte der Konsequenzen je nach Vorfall.
Ursprünglich hätten alle Beteiligten gemeinsam das Modell ausarbeiten sollen. Eingebunden waren die kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen, die Polizeikommandanten, die Liga, die Clubs, Wissenschaftler, die SBB, die Fanarbeiten und – als Premiere – sogar die Fussballfans selbst.
Fans sind gegen die Massnahmen
Doch die Risse in dieser Projektgemeinschaft wurden rasch sichtbar. Viele Fans nutzten die Chance, sich via Internetumfrage zu äussern. Und lehnten die vorgeschlagenen Massnahmen laut Informationen dieser Zeitung mit massivem Mehr ab. Die Fanarbeiten zogen sich zurück, weil sie das Gefühl hatten, ihre Meinung sei nicht gefragt. Und schon im Sommer begannen einige Clubs, die Liga zum jetzt vollzogenen Ausstieg aus dem Projekt zu drängen.
Die politischen Akteure müssen mit dem Vorwurf leben, dass sie zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Während das eigentliche Kaskadenmodell noch in der Vernehmlassung war, entwickelten die kantonalen und städtischen Bewilligungsbehörden eine erstaunliche Eigendynamik. Unter dem Namen «Arbeitsgruppe Bewilligungsbehörden» schrieben sie den Clubs nach Gewalttaten in einem bislang unbekannten Mass vor, Teile ihres Stadions zu schliessen.
So kam es seit April 2023 zu Sektorsperrungen in Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, Sitten, St. Gallen und Zürich. Die meisten Massnahmen wurden für Vorfälle ausgesprochen, die sich ausserhalb der Stadien ereignet hatten.
In Zürich war die Südkurve nach einem Vorfall am Bahnhof Altstetten gesperrt. In Bern fand ein Spiel ohne Ostkurve statt, weil YB-Fans in Zürich einen Bus demoliert und einen Busfahrer bedroht hatten.
Die Zürcher Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart ist für die Sperrung der Südkurve beim Match gegen Lausanne-Sport Ende Januar verantwortlich. Sie verteidigt das Vorgehen in Zürich. «Wir haben das Modell nicht zu früh angewendet und es war auch kein Alleingang», schreibt sie gegenüber dieser Redaktion. Die Bewilligungsbehörden hätten sich gemeinsam für ein «provisorisches System» entschieden, in dem jede Bewilligungsbehörde nach Absprache mit der Arbeitsgruppe Massnahmen treffen kann.
«Und: Vergessen wir nicht, was der Auslöser für die Sperrung der Südkurve war», fügt Rykart an. Zuvor hätten mehrere Dutzend FCZ-Anhänger die Polizei «massiv» mit Petarden und Steinen angegriffen und Strassenbarrikaden errichtet.
Mehrfach wurden aber bei den Anordnungen von den Behörden Stufen übersprungen, die laut Kaskadenmodell vor der Aussperrung von Zuschauenden kommen sollten.
Die Wissenschaft sieht das Modell kritisch
So nahmen die Spannungen zwischen den verschiedenen Interessenvertretern zu, die das Modell eigentlich gemeinsam ausarbeiten sollten. Nach Fanprotesten im Januar äusserten sich auch Vertreter der Universität Bern, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. «Als Wissenschaftler zweifeln wir daran, dass das Kaskadenmodell die richtige Lösung ist», stellte Alain Brechbühl als Leiter der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen gegenüber dieser Zeitung fest.
Vor allem aber erschreckte das harte Vorgehen die Clubs. Diese kamen nicht nur von Fanseite unter Druck. Sie sind auch der Meinung, dass sie nicht oder nur bedingt für Gewalttaten verantwortlich sind, die sich ausserhalb der Stadien ereignen.
Der FC Zürich wehrt sich deswegen vor Gericht gegen die Sperrung der Südkurve, die ihm für Ausschreitungen am Bahnhof Altstetten auferlegt wurde. Der FCZ will wissen, ob die Massnahme juristisch haltbar ist. Die Behörden stützen sich auf das Hooligan-Konkordat, das laut Bundesgericht nur zur Verhinderung künftiger Straftaten eingesetzt werden darf.
Die Frage lautet also: Ist der Ausschluss von Tausenden von Fans dazu geeignet, präventiv Gewalt zu verhindern? Oder handelt es sich um eine unzulässige Kollektivstrafe? Je nach Ausgang könnte der Entscheid des Zürcher Gerichts das Kaskadenmodell also stützen – oder ihm die rechtliche Grundlage entziehen.
Aber schon vor diesem Gerichtsentscheid ist man beim Thema Fangewalt in der Schweiz mal wieder am Nullpunkt angelangt. Zwar erklärten am Donnerstag Liga und Behörden, sie hätten natürlich ein gemeinsames Ziel: gewaltfreie Spiele. Doch wie soll ein Problem gelöst werden, bei dem die wichtigsten Akteure nach einem Jahr Zusammenarbeit feststellen, dass sie sich in grundlegenden Fragen komplett uneinig sind?
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