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Exodus aus Berg-Karabach
Tausende fliehen nach Armenien

epa10871518 A still image taken from a handout video provided by the Russian Defence Ministry press-service shows Russian peacekeepers evacuating civilians at an undisclosed location in Nagorno-Karabakh, 20 September 2023. More than two thousand civilians, including 1,049 children, were evacuated from the 'most dangerous areas' of Nagorno-Karabakh, the Russian ministry said. Azerbaijan's Ministry of Defense announced on 20 September that it agreed to a proposal for a ceasefire with ethnic Armenians in Azerbaijan's breakaway region of Nagorno-Karabakh, a day after Azerbaijan began an offensive to take control of the enclave. EPA/RUSSIAN DEFENCE MINISTRY PRESS SERVICE HANDOUT -- MANDATORY CREDIT -- BEST QUALITY AVAILABLE -- HANDOUT EDITORIAL USE ONLY/NO SALES
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Von zwei Uhr nachmittags an sollte es kostenloses Benzin für alle geben, die aus Berg-Karabach flüchten wollten. Die Menschen standen am Montag Schlange vor den Tankstellen der Regionshauptstadt Stepanakert. Schliesslich mangelte es schon vor dem aserbaidschanischen Angriff an allem, was im Alltag nötig ist – an Treibstoff, Lebensmitteln, Strom. Jetzt flüchten die armenischen Bewohner und Bewohnerinnen von Berg-Karabach vor den aserbaidschanischen Truppen, die die Region vergangene Woche eingenommen haben.

Es gibt kaum zuverlässige Informationen über die Lage in Stepanakert. Unabhängige Berichterstatter fehlen, Bewohner schicken Fotos und Nachrichten über soziale Medien. Auf den Bildern sind Menschen zu sehen, die Benzinkanister tragen, ihre Kofferräume vollladen, ihre Mobiltelefone neben Stromgeneratoren auf der Strasse aufladen. Auch in Stepanakert selbst gibt es Flüchtlinge, sie haben sich aus den umliegenden Dörfern in der Hauptstadt in Sicherheit gebracht. Oft sind sie auf der Suche nach Angehörigen. (Unsere Analyse zum Konflikt: EU wird vom «neuen Freund» düpiert.)

Gleichzeitig fliehen die Menschen zu Tausenden nach Armenien: Es seien schon insgesamt 13'350 Flüchtlinge aus der Kaukasus-Region nach Armenien eingereist, teilte die armenische Regierung am Dienstag mit. Die Regierung stelle allen ohne Obdach eine Unterkunft zur Verfügung, hiess es. Die Registrierung der Flüchtlinge gehe weiter.

Bewohner fürchten Repressalien

Eigentlich sollten zuerst Menschen in Sicherheit gebracht werden, die während der Kämpfe ihre Häuser verloren hatten, schrieben die offiziellen Stellen in Berg-Karabach. Doch die Strassen waren zeitweise so voll, dass Kranke und Verletzte beispielsweise gar nicht transportiert werden konnten.

Laut dem Ombudsmann der nicht anerkannten Republik Arzach, so nennen die Bewohner Berg-Karabach, sollen 200 Menschen bei dem Angriff getötet und mehr als 400 verletzt worden sein.

Aserbaidschan sagte zwar zu, die Rechte der Armenier in Berg-Karabach zu respektieren und die Versorgung des Gebiets nach einer zehnmonatigen Blockade wiederherzustellen. Dennoch fürchten viele Bewohnerinnen und Bewohner Repressalien der neuen Machthaber. Sie kündigten an, künftig in Armenien leben zu wollen.

«Es war ein Albtraum. Es gibt keine Worte, um es zu beschreiben», sagte eine der evakuierten Personen, die ihren Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen wollte, in der armenischen Ortschaft Kornidsor. «Das Dorf wurde schwer beschossen. Es ist fast niemand mehr im Dorf.»

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«Wir haben schreckliche Tage durchlebt», sagte eine 41-jährige Frau aus dem Ort Rew, der in Aserbaidschan Schalwa genannt wird. Sie kam mit ihrer Familie in einem Kleinbus nach Goris, ihre Habseligkeiten in Taschen gepackt. Eine 54-jährige Frau aus dem Dorf Wank konnte es nicht glauben, dass die Aserbaidschaner – die «Türken», wie sie sagt – bis in ihr historisches armenisches Dorf vorgedrungen seien. «Ich weiss nicht, wohin», sagte die Frau, die nun vorläufig in einem Hotel in Goris untergekommen ist.

Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan sagte am Sonntag, ohne echten Schutz vor «ethnischer Säuberung» und ohne Verbesserung der Lebensbedingungen für die Armenier in Berg-Karabach würden die Flüchtlingszahlen noch steigen. Die Verantwortung dafür liege bei Aserbaidschan und den russischen Friedenstruppen in Berg-Karabach.

Armenien sei bereit, alle Flüchtlinge von dort aufzunehmen. Das ist kein kleines Versprechen: Viele Geflüchteten fühlen sich von Paschinjan im Stich gelassen. Sie jetzt aufzunehmen, birgt Risiken für den Premierminister.

Paschinjan hatte noch eine weitere Botschaft: Sie ging Richtung Moskau. Der aserbaidschanische Angriff habe gezeigt, dass Armeniens externes Sicherheitssystem «nicht effektiv» sei. Er meinte damit ein von Moskau angeführtes Sicherheitsbündnis, dem Armenien angehört – und das ihm nun nicht mehr ausreicht. Paschinjan möchte von Moskau unabhängiger werden, und er betrachtet als Schritt dorthin das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Der allerdings hat Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen.

«Wird Armenien ein souveräner, freier, demokratischer Staat sein oder eine ängstliche Randregion?»

Nikol Paschinjan, Armeniens Premierminister

Trotzdem betonte der armenische Premier, seine Entscheidung sei nicht gegen Russland gerichtet. «Wird Armenien ein souveräner, freier, demokratischer Staat sein oder eine ängstliche Randregion?», fragte er in einer Ansprache an die armenische Bevölkerung. Unterdessen dauerten die Proteste gegen den Regierungschef in Jerewan an. Die Menschen blockierten Hauptstrassen und lieferten sich vereinzelte Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Armeniens Sonderbotschafter Edmon Marukjan liess verlauten, die russische Friedensmission habe nicht für die friedliche Existenz Berg-Karabachs gesorgt. Aber auch die EU, die USA und andere internationalen Akteure hätten versagt, Rechte und Sicherheit der Armenier in Berg-Karabach zu bewahren.

Vor einer Woche hatte Aserbaidschan eine gross angelegte Militäroffensive in Berg-Karabach gestartet. Bereits einen Tag später mussten die proarmenischen Kämpfer von Berg-Karabach eine Waffenstillstands­vereinbarung akzeptieren. Berg-Karabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, in dem Gebiet leben aber überwiegend Armenier. Aserbaidschan und Armenien kämpfen seit Jahren um das Gebiet.

Alijew trifft Erdogan

Nach einem ersten Treffen in der vergangenen Woche begann am Montag in Chodschali eine zweite Gesprächsrunde zwischen aserbaidschanischen Vertretern und den Separatisten von Berg-Karabach.

Derweil traf sich die Gegenseite, um über die zurückeroberte Region zu beraten: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der im Konflikt an der Seite Aserbaidschans steht, sprach am Montag mit Präsident Ilham Alijew. Als Treffpunkt wählten sie ausgerechnet die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan, die durch Armenien von Aserbaidschan getrennt ist. Alijew möchte einen Landkorridor dorthin errichten, das wäre auch in Erdogans Interesse. Er hätte dann über Aserbaidschan Zugang zum Kaspischen Meer.