Vom Frauen-Eishockey zum Medizinstudium«Es ist taktlos und verantwortungslos»
Hayley Wickenheiser war die weltbeste Eishockeyspielerin. Globale Bedeutung erlangt die 41-Jährige aber in Zeiten von Corona als Medizinstudentin – mit einem explosiven Tweet gegen das IOC.
Kein Torjubel und keine Niederlage in einem WM-Final waren vergleichbar mit jenem Moment Anfang März in einem Spital in Toronto. Hayley Wickenheiser, im letzten Jahr ihres Medizinstudiums an der University of Calgary und seit Januar in einem Praktikum in Ontario, wurde richtig durchgeschüttelt: «Ein junger Pilot hatte massiven Sauerstoffmangel», sagt sie gegenüber «CBC Sports», «es musste ihm durch den Mund ein Schlauch in die Luftröhre zur Beatmung gelegt werden.»
Wickenheiser hat Hunderte von Stunden in den Notaufnahmen verbracht. Nun behandelte sie weder den Piloten noch andere Patienten, sie beobachtete aber die rasche Veränderung bei ihren Arbeitskollegen: «Ich sah die wachsende Angst bei vielen der diensthabenden Ärzte.»
Am nächsten Morgen wurde sie noch unruhiger. Das Internationale Olympische Komitee verkündete, die Spiele in Tokio würden wie geplant ab dem 24. Juli über die Bühne gehen. Hayley Wickenheiser konnte nicht glauben, was sie gelesen hatte: «Das Statement war so unglaublich deplatziert. Es ging nicht um die Gesundheit und die Sicherheit der Athleten, dafür um alles andere.»
Nun wusste Wickenheiser, dass sie reden musste. Sie, die einst das Frauen-Eishockey geprägt hatte wie niemand sonst, nun als Athletenvertreterin im IOC sitzt und auch in der Medizin viele Erfahrungen gemacht hatte – sie musste handeln, und zwar schnell: «Ich hätte mir nie verzeihen können, wenn ich dazu auch nur einen Tag nichts gesagt hätte.»
«Du hast eine Generation inspiriert»
Schwierige Situationen war sich die Kanadierin aus ihrer Aktivzeit gewohnt. Als Klein Hayley in der Provinz Saskatchewan erstmals die Schlittschuhe schnürte, gab es keine Mädchenteams. Dass sie auch noch talentiert war, machte sie bei den Boys und deren Eltern nicht beliebter. «Ich musste durch die Hölle, nur um überhaupt spielen zu können», sagte sie einmal. Der Einsatz sollte sich lohnen. Viermal hintereinander gewann sie Olympiagold, dazu siebenmal den WM-Titel, insgesamt spielte sie 23 Jahre für die «Ahornblätter».
Premierminister Justin Trudeau twitterte nach ihrem Rücktritt: «Du hast eine Generation von Eishockeyspielerinnen inspiriert, hart zu spielen und gross zu träumen.» Im November 2019 wurde sie in die Hall of Fame aufgenommen, und wenn sie mit einem Mann verglichen wurde, dann meist mit Vorkämpfer Mark Messier.
«Wir sind ein Team. Ich bin stolz auf Kanada, nicht auf mich. Es war der einzig richtige Entscheid.»
Während der Karriere hatte Wickenheiser ihre Ausbildung bis zum Masterabschluss vorangetrieben. Ihr Interesse an medizinischen Themen war einst auf schmerzliche Weise geweckt worden: Cousin Doug Wickenheiser, ein ehemaliger Nummer-1-Draft, verlor 1999 den Kampf gegen den Lungenkrebs.
Hayley Wickenheiser beriet sich mit der Präsidentin des kanadischen Olympischen Komitees und mehreren Olympiasiegern. Kurz darauf verschickte sie einen explosiven Tweet, in dem sie die Pläne des IOC harsch kritisierte: «Es ist taktlos und verantwortungslos, wenn man die Situation der Menschheit anschaut. Wir wissen nicht, was in den nächsten 24 Stunden passiert, und schon gar nicht, was in den nächsten drei Monaten.»
Natürlich kam die Reaktion aus der Zentrale aus Lausanne postwendend. Sie hätte zuerst um Erlaubnis fragen sollen, wurde moniert, aber Wickenheisers Konter war so trocken wie einer ihrer Slapshots: «Ich wusste nicht, dass Meinungsfreiheit durch das IOC abgesegnet werden muss.»
Sie hatte eine Lawine losgetreten, bald folgte die Nachricht, Kanada würde zum geplanten Datum keine Athleten nach Japan entsenden. Zwei Tage später waren die Spiele um ein Jahr verschoben. Genugtuung verspürt Wickenheiser nicht: «Wir sind ein Team. Ich bin stolz auf Kanada, nicht auf mich. Es war der einzig richtige Entscheid.»
Der Kampf ums Schutzmaterial
Bis jetzt sind in Kanada über 2000 Menschen an Covid-19 gestorben. Wickenheiser ist aber nicht einfach zu ihren Büchern zurückgekehrt. Auf den sozialen Medien lancierte sie noch im März einen Appell, um dem Mangel an Schutzmaterial entgegenzuwirken, ein kanadischer Schauspieler mit 35 Millionen Followern auf Instagram und Ontarios Premierminister Doug Ford teilten den Aufruf und verstärkten so den Schneeballeffekt.
In einer Lagerhalle im Osten Torontos konnten die Leute seither immer am Samstag Masken, Handschuhe und Ganzkörperanzüge vorbeibringen. Wickenheiser und ihr Team von achtzig Freiwilligen lieferten diese direkt an das Pflegepersonal der Gegend aus. «Die Leute stammen aus den unterschiedlichsten Schichten. Einfach Kanadier, die zusammenkommen, um zu helfen», sagt Wickenheiser. Sie betonte, sie wollten dies nur so lange tun, bis das ganze Material ankomme, das die Regierung bestellt habe. Dies scheint der Fall zu sein, Wickenheiser hat für heute Samstag den letzten Sammeltag angekündigt. Aber es würde überraschen, wenn «Captain Hayley» nun kürzertreten würde.
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