Interview über Aufnahme von Flüchtlingen«Es ist mehr, als ein freies Bett zur Verfügung zu stellen»
Psychiater Matthis Schick lobt die Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine, warnt aber vor romantischen Vorstellungen. Gastgeber müssten ihre Belastungsgrenzen kennen.

Herr Schick, die Solidarität mit der Ukraine ist momentan sehr gross. Knapp 3000 Geflüchtete kommen inzwischen privat unter. Können sich Gastgeber damit auch überfordern?
Die grosse Hilfsbereitschaft ist absolut lobenswert. Es kann für alle Beteiligten eine unglaubliche Bereicherung sein und sehr gut funktionieren. Doch viele unterschätzen, dass es mehr ist, als nur ein freies Bett zur Verfügung zu stellen. Denn die Menschen aus der Ukraine kommen nicht zu uns in die Ferien, sondern bringen schreckliche Erfahrungen aus dem Kriegsgebiet und Sorgen um ihre zurückgebliebenen Angehörigen mit. Sie wissen nicht, ob diese am nächsten Tag noch am Leben sind. Einige der Geflüchteten sind wahrscheinlich traumatisiert und behandlungsbedürftig.
Was braucht es, damit trotz des guten Willens die Stimmung nicht plötzlich kippt?
Wichtig ist, dass man sich vor der Aufnahme von Flüchtlingen darüber im Klaren ist, dass dies gleichzeitig Verantwortung bedeutet. Man sollte eine solche Entscheidung deshalb nicht überhastet treffen und sich selbst seine Belastungsgrenzen eingestehen. Schliesslich kann die Ausnahmesituation statt ein paar Wochen auch mehrere Monate dauern. Man kann dann zwischendurch nicht einfach mal kurz sagen, jetzt ist wieder Schluss. Generell ist es nicht einfach, mit wildfremden Menschen in den eigenen vier Wänden zusammenzuleben. Eine Wohnung ist oft ein heikles Terrain, und die Toleranzgrenzen sind an diesem Ort meist nicht sehr hoch. Bereits die Musiklautstärke oder das individuelle Ruhebedürfnis können zu Konflikten führen. Eine Möglichkeit ist, Regeln auszuhandeln oder sich bei grösseren Problemen professionelle Beratung zu holen.
Ist es pietätlos, wenn der Gastgeber oder die Gastgeberin zu Hause mit Freunden feiert?
Es kann als taktlos empfunden werden, wenn man sein normales Leben einfach weiterführt wie bisher. Es kann aber ebenso gut gerade das Richtige sein, weil dadurch wieder etwas Normalität und Alltag ins Leben der Betroffenen getragen wird. Umso bedeutender ist es, Unsicherheiten offen und direkt anzusprechen. Vorausgesetzt, dass man gut miteinander kommunizieren kann. Man sollte sich somit im Vorfeld überlegen, dass der neue Alltag auch für einen selbst mit Schwierigkeiten verbunden sein kann. Vielleicht fühlt man sich auf einmal gehemmt, bestimmte Dinge wie früher zu machen. Auch darf man nicht erwarten, dass die aufgenommenen Personen sich die ganze Zeit dankbar zeigen und im Haushalt überall mithelfen. Das wäre viel zu romantisch gedacht. Die Geflüchteten sind jetzt erst einmal in einem Überlebensmodus.

Was brauchen sie jetzt besonders?
Vor allem Sicherheit. Es geht unter anderem auch um ganz pragmatische Sachen, zum Beispiel, wo sie ihre Kinder zur Schule bringen oder wo sie arbeiten können. Man darf somit als Gastgeber oder Gastgeberin nicht enttäuscht sein, wenn sie sich nicht kontemplativ mit einem am Abend zusammensetzen, um wunderbare Gespräche zu führen. Natürlich kann dies alles auch möglich sein, man darf es aber nicht erwarten. Dennoch ist das Zusammenleben grundsätzlich etwas Positives, da wir einen sinnvollen Beitrag leisten können und es gleichzeitig für uns eine Horizonterweiterung ist. Denn wir erleben hautnah mit, wie es den Menschen in der Ukraine geht, und lernen dadurch unmittelbar auch andere Lebensrealitäten kennen.
Fast täglich kommen traumatisierte Flüchtlinge aus Kriegsgebieten zu Ihnen ans Universitätsspital. Gibt es dabei Unterschiede aufgrund dessen, woher sie kommen?
Im Prinzip spielt es keine Rolle, ob die russische Rakete in Syrien oder in der Ukraine einschlug. Die Art der traumatischen Erfahrungen während eines Kriegs ist meist universell. Denn die Menschen sind plötzlich in Lebensgefahr, verlieren auf einmal ihren Besitz und Angehörige und müssen ihre Heimat aufgeben. Trotzdem ist die aktuelle Situation der aus der Ukraine in die Schweiz Geflüchteten sehr unterschiedlich, verglichen mit jener von Menschen aus anderen Ländern. Das liegt daran, dass Menschen aus Syrien oder Afghanistan bei uns keinen Schutzstatus haben. Mit grosser Wahrscheinlichkeit bekommen sie keine Flüchtlingsanerkennung, sondern werden nur vorläufig aufgenommen, dürfen die Familie nicht nachziehen, haben schwierige Rahmenbedingungen am Arbeits- und Wohnungsmarkt und bekommen keine volle Sozialhilfe. Das bedeutet, dass sich bei ihnen das Unsicherheitsgefühl aus dem Krieg in der Schweiz weiter chronifiziert, sie sich weiterhin als Spielball des Schicksals fühlen. Das ist desaströs, weil sie das Vertrauen in ihre Fähigkeit verlieren, ihr Leben selbst in die Hand nehmen zu können.
Verarbeiten Kinder die schrecklichen Bilder aus dem Krieg anders als Erwachsene?
Bei uns am Ambulatorium für Kriegsopfer behandeln wir nur Erwachsene. Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir aber, dass Kinder, die zu den vulnerabelsten und schutzbedürftigsten Menschen gehören, häufig auch eine unglaubliche Resilienz haben. Wenn sie bei uns in der Schweiz auf geeignete Rahmenbedingungen treffen, können viele ihre traumatischen Erfahrungen überwinden. Dazu gehört es, dass sie hier möglichst schnell eine Lebensnormalität haben, also eingeschult werden und Kontakt zu Gleichaltrigen haben. In der Schule wird dann genau beobachtet, ob sie mit anderen spielen oder sich eher zurückziehen, ob sie sich konzentrieren können und im Unterricht mitmachen oder sie sich auffällig verhalten. Wenn nötig, reagiert man und leitet entsprechende Schritte ein. Erwachsene fallen dagegen oft durch die Maschen, weil es niemand merkt, wenn sie traumatisiert sind.
«Traumatische Erfahrungen verändern uns, und das ist nicht rückgängig zu machen.»
Der Krieg reisst Wunden auf, die oft lang brauchen, um zu verheilen. Lässt sich dieses grosse Leid der Seele tatsächlich flicken?
Eine Heilung im Sinne der Wiederherstellung des Vorzustands ist nie möglich. Traumatische Erfahrungen verändern uns, und das ist nicht rückgängig zu machen. Beeinträchtigungen und Symptome wie etwa Angst, Alpträume oder Depressionen lassen sich aber behandeln. Wie weit man mit einer Therapie kommt, hängt stark von der Art und dem Umfang der Traumatisierung sowie von den aktuellen Lebensbedingungen ab. Gesetzt den Fall, dass sich die Lage in der Ukraine in nächster Zeit beruhigen würde, wären die Chancen sehr gut, dass bei vielen Betroffenen eine weitgehende Symptomfreiheit erreicht werden könnte. Das bedeutet, dass sie trotz der schlimmen Erfahrungen des Kriegs im Alltag wieder funktionieren und psychisch nicht mehr so stark unter der Vergangenheit leiden würden.

Hängt dies auch davon ab, ob man generell psychisch stabil ist?
Trauma hat nichts mit Schwäche zu tun, wir alle können betroffen sein. Wie gut jemand das Erlebte verarbeiten kann und wie viele Ressourcen aktiviert werden können, hängt von vielen Faktoren ab. Je schwerer die traumatische Erfahrung ist, je länger die betroffene Person unbehandelt bleibt und je instabiler und unsicherer die Rahmenbedingungen sind, desto bescheidener ist das Behandlungsergebnis. Nach einer gewissen Zeit ist das Trauma in jede Zelle eingedrungen und hat eine Vielzahl an psychischen, familiären und sozialen Folgeschäden nach sich gezogen. Auch dann kann man therapeutisch noch etwas tun, aber meist geht es dann eher um Schadensbegrenzung.
Ist die Hilfsbereitschaft derzeit einzigartig?
In der Schweiz gab und gibt es immer engagierte Menschen, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Dennoch ist die Solidarität gegenüber der Ukraine viel stärker ausgeprägt und weniger ambivalent als etwa beim Syrienkrieg. Bei Letzterem gab es zwar ebenfalls in ganz Europa eine Solidaritätswelle, auf der anderen Seite aber auch viel Abwehr und Befürchtungen. Diese Polarisierung sehe ich bei der Ukraine nicht. Es ist in diesem Fall unbestritten, dass man sie aufnehmen muss. Es ist gut, zu sehen, dass so viele unterstützen wollen und sich solidarisch zeigen. Wären wir zur Flucht gezwungen, würden wir uns dieselbe Unterstützung wünschen.
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