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Interview mit der obersten Wissenschaftlerin
«Es braucht eine wissenschaftliche Energiekrisen-Taskforce»

«Die Rolle der Wissenschaft in der Politik muss gestärkt werden.» Sabine Süsstrunk, Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrats.
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In einem neuen Bericht fordern Sie als Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrats eine «Stärkung der Rolle der Wissenschaft in der Politik». Hat die Politik bisher nicht auf die Wissenschaft gehört?

Doch, doch, man hört in Bern durchaus auf die Wissenschaft – in normalen Zeiten. Aber in Krisen fehlt es an Kanälen, über die die Wissenschaft direkt mit der Politik kommunizieren kann. Wir regen an, dass die Kommunikation schon vor einer Krise gepflegt wird. Wenn die Krise dann kommt, soll es bereits Instrumente geben, mit denen die Wissenschaft direkt an die Politik gelangen kann.

Braucht die Schweiz in der aktuellen Energiekrise eine Taskforce wie während der Pandemie?

Ich denke, ja: Es braucht eine wissenschaftliche Energiekrisen-Taskforce.

Ist die Schweiz also schlecht aufgestellt?

Verstehen Sie mich nicht falsch: Energieversorgung ist ein Gebiet, in dem der Bund und die Hochschulen immer schon ausgezeichnete Forschung betrieben haben.

«Die Corona-Taskforce hat die Auswirkungen auf die Gesellschaft zu wenig berücksichtigt.»

Aber?

In der Corona-Krise haben wir ja vor allem eines gelernt: Auch wenn wir glauben, dass wir auf eine bestimmte Krise gut vorbereitet sind, geschieht doch viel Unvorhergesehenes: Wir haben etwa unterschätzt, wie schnell das Virus sich ausbreitet. Und vor allem: Welche weitreichenden Auswirkungen auch die Schutzmassnahmen haben können.

Sie meinen die sozialen Auswirkungen von Lockdowns und Schulschliessungen?

Ja. Die wissenschaftliche Covid-Taskforce hat hervorragende Arbeit geleistet, wenn es um medizinisch-technologische und wirtschaftliche Fragen ging. Aber die Auswirkungen auf die Gesellschaft wurden zu wenig berücksichtigt.

Tanja Stadler, Präsidentin der National Covid-19 Science Task Force, spricht neben Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif), im März 2022 in Bern. 

Wie hat sich das konkret geäussert?

Die Taskforce hat zwar ausgezeichnete Berichte darüber verfasst, wie sich das Virus an Schulen weiterverbreitet. Es kam von der Taskforce aber nichts darüber, wie sich Schulschliessungen auf die Bildung, das Familienleben und die psychische Gesundheit auswirken.

Was bedeutet das also für eine Energiekrisen-Taskforce?

Sie sollte sich nicht allein um die technischen und ökonomischen Aspekte kümmern. Auch in einer Energiekrise geht es immer um die Menschen: Was macht das mit den Leuten, wenn man ihnen plötzlich für vier Stunden den Strom pro Tag abstellt? Oder wenn man ihnen vorschreibt, nur noch bis 19 Grad zu heizen? – Die Akzeptanz von Massnahmen ist ein wichtiges Element.

«Auch die Wissenschaft braucht in Krisen Heldinnen und Helden des Alltags.»

Laut Ihrem Bericht gibt es bereits 110 ausserparlamentarische Kommissionen, die Verwaltung und Politik fachlich beraten. Ist das Problem nicht, dass es zu viele solcher Gremien gibt?

Die meisten dieser Kommissionen sind nicht wissenschaftlich ausgerichtet. Sie bestehen aus Fachspezialistinnen und -spezialisten, die aus den Branchen stammen, um die es geht. Vor allem aber: Diese Kommissionen sind nicht für Krisen gedacht.

«Held des Alltags»: Christoph Berger, Präsident der Impfkommission, an einer Pressekonferenz in Bern.

In der Pandemie scheint aber immerhin eine der ausserparlamentarischen Kommissionen besonders gut funktioniert zu haben: die Impfkommission.

Das ist primär der ausserordentlichen Leistung ihres Präsidenten, Christoph Berger, zu verdanken. Er war in dieser Situation ein absoluter Glücksfall. Auch die Wissenschaft braucht in Krisen Heldinnen und Helden des Alltags.

Was kann der Wissenschaftsrat dazu beitragen, dass man solche in einer kommenden Krise findet?

Wir haben in der Schweiz ein riesiges wissenschaftliches Netzwerk. Da gehören etwa der ETH-Rat, die Hochschulen, der Nationalfonds, Innosuisse und die Akademien und der Wissenschaftsrat dazu. Wir wissen eigentlich, wo wir die Leute finden, die wir in kritischen Situationen brauchen. Darum schlagen wir vor, dass wir von der Politik und der Verwaltung als Ansprechpartner anerkannt und einbezogen werden.

Also doch ein neues offizielles Gremium?

Nein, das braucht es nicht. Es reicht, wenn man weiss, dass diese im Notfall zur Verfügung stehen.

«Die Wissenschaft kommt im Parlament sicher zu kurz.»

Auf dem Höhepunkt der Covid-Krise twitterte der Epidemiologe Christian Althaus: «Die Politik muss endlich lernen, der Wissenschaft auf Augenhöhe zu begegnen.» Teilen Sie dieses Urteil?

Nein, das geht mir zu weit. Es wird immer unterschätzt, wie viel ausgezeichnete Ressortforschung es beim Bund gibt …

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… also Forschung, die die Verwaltung selbst betreibt, etwa im Labor Spiez oder bei Meteo Schweiz, und Forschung, die sie bei den Hochschulen und Privaten in Auftrag gibt.

Ja. Wo ich Herrn Althaus aber recht gebe: Die Wissenschaft kommt im Parlament sicher zu kurz. Die Zeit ist im parlamentarischen Alltag einfach zu knapp für eine vertiefte Auseinandersetzung. Und die Wissenschaft wird dort oft auch nur als eine weitere Lobby wahrgenommen.

Wie wollen Sie Abhilfe schaffen?

Man glaubt in einer Krise doch vor allem den Leuten, die man schon kennt. Wir müssen also dafür sorgen, dass sich Politikerinnen, Politiker und Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler direkt treffen können. Ein gemeinsamer Ausflug aufs Rütli wäre vielleicht schon mal ein guter Anfang.

Sie haben während der Pandemie selbstkritisch festgehalten: «Wir hätten mit einer Stimme sprechen sollen.»

Ich habe mich da auf die Taskforce bezogen, und ja, es war schade, dass zu Beginn ihrer Arbeit einzelne Mitglieder unterschiedliche Positionen öffentlich machten. In der Taskforce selbst wurde durchaus ein Konsens erarbeitet, nur wurde dieser meiner Meinung nach in der ersten Phase nicht gut genug kommuniziert.

Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht doch nur dann, wenn unterschiedliche Ansichten geäussert und verhandelt werden.

Richtig: «Die Wissenschaft» kann gar nicht «mit einer Stimme» sprechen. Ein Konsens entsteht erst, wenn wir ihn über Publikationen, Konferenzen und Diskussionen miteinander aushandeln. Das braucht Zeit. Albert Einsteins Relativitätstheorie war umstritten, als er sie 1905 veröffentlichte. Heute ist sie etabliert.

Sie könnten ja schon jetzt auch für wahrscheinliche Krisen Taskforce-Mitgliederlisten erstellen.

Jede Taskforce, die wir jetzt für eine kommende Krise zusammenstellen, wird sich dann sowieso als die falsche erweisen. Es geht um etwas anderes: Wir wollen die Breite unseres Fachwissens von Anfang an einbringen, damit eine Taskforce auf solider Basis loslegen kann. Dafür müssen aber auch die Hochschulen vorbereitet sein und sich die Politikberatung ins Pflichtenheft schreiben.

Während der Pandemie wünschte man sich auch hierzulande manchmal Leute wie Christian Drosten oder Anthony Faucy: Wissenschaftler, die das Ohr der obersten Regierungsspitze haben, aber auch mit dem Volk verständlich kommunizieren. Wäre das auch ein Modell für die Schweiz?

Nein, das funktioniert bei uns nicht. Die Schweiz ist so misstrauisch gegenüber einer einzelnen Person, die Wissen und Macht monopolisiert.

Dann sind Sie auch dagegen, dass Wissenschaft direkt Regierungsverantwortung übernimmt?

Das wäre gefährlich. Wir Wissenschaftler sind nicht Politiker, haben keine demokratische Legitimation. Und ganz ehrlich: Uns fehlt oft auch das Verständnis für die Art und Weise, wie Politik zu Kompromissen und Entscheiden kommt. Die Politik soll beschliessen, wir müssen sie gut informieren.

Der ETH-Klimawissenschaftler Reto Knutti steht in der  Kritik, weil er sich oft auch politisch äussert – und zum Beispiel fürs CO₂-Gesetz warb.

Das ist völlig in Ordnung. Professor Knutti macht das als Bürger und hat dafür jedes Recht – mindestens so sehr, wie wenn Bundesrat Ueli Maurer uns rät, einer Steuervorlage zuzustimmen.

«Es ist ja nicht allein die Politik, die auf die Klimakrise verstockt reagiert.»

Verzweifeln Sie als Wissenschaftlerin nicht manchmal selbst, wie langsam und verwirrend politische Prozesse ablaufen?

Ja, das kann sehr frustrierend sein. Aber ich bin es gewohnt. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen und weiss, wie lange es gedauert hat, bis wir nur schon endlich das Frauenstimmrecht erhalten haben.

Viele Klimabewegte haben die Geduld mit der Politik verloren. Sie kleben sich auf Fahrbahnen und bewerfen Kunst mit Kartoffelstock. Können Sie das nachvollziehen?

Ich verstehe die Klimaaktivsten gut – solange sie gewaltfrei bleiben. Es ist ja nicht allein die Politik, die verstockt reagiert, sondern ein Grossteil der Bevölkerung hat Mühe, gefährliche, aber abstrakte und langfristige Entwicklungen wahrzunehmen und einzuordnen. Seit 30 Jahren ist es wissenschaftlicher Konsens, dass die Klimaerwärmung gravierende Konsequenzen hat. Man sagt sich dann: «Ja, ich weiss, dass sich das Klima erwärmt, aber auf die Ferien in Bali verzichte ich nicht.»

Da ist doch die Wissenschaft gefragt: Wie kann man den Menschen das Verständnis für abstrakte Gefahren beibringen?

Solche Forschung gibt es. Aber sie zeigt: Verhaltensänderungen sind extrem schwierig, solange die Leute nicht persönlich betroffen sind. Leider scheint die Einsicht erst dann zu kommen, wenn der Permafrost taut und die ersten Dörfer in den Alpen zusammenstürzen.