Erstaunlicher CollegeboyFederers Entdeckung elektrisiert New York
Ben Shelton spielt wie eine Naturgewalt und verbreitet gute Laune, nun fordert der 20-Jährige im Halbfinal Novak Djokovic. Die Geschichte seines rasanten Aufstiegs.
Ben Shelton war immer etwas spät dran in seiner Tenniskarriere. Zum Glück lernt er schnell. Er war bereits elf, als er mit American Football aufhörte und ernsthaft Tennis zu spielen begann. Anfang 2023 reiste er mit 20 erstmals überhaupt für ein Turnier ins Ausland – ans Australian Open, wo er mal kurz in den Viertelfinal stürmte. Für diese Gelegenheit musste er zuerst einen Pass beantragen.
In diesem Frühjahr spielte er sein erstes Profiturnier auf Sand, dann debütierte er auf Rasen. Ständig macht der junge Amerikaner neue Erfahrungen. Seine nächste: Im Halbfinal des US Open fordert er am Freitag Novak Djokovic.
«Er ist wie ein Labrador Retriever. Wenn du einen Ball wirfst, springt er ihm nach. Immer und immer wieder.»
«Das ist doch der, der 23 dieser Dinger gewonnen hat», sagte er, als er nach seinem Sieg im US-Viertelfinal gegen Frances Tiafoe auf seinen nächsten Gegner angesprochen wurde. «Viel cooler kann es nicht werden.» Seine Unbeschwertheit und seine kindliche Freude am Spiel faszinieren. Fast immer umspielt ein Lächeln sein Gesicht. Sein Vater Bryan, der ihn coacht, sagte kürzlich: «Er ist wie ein Labrador Retriever. Wenn du einen Ball wirfst, springt er ihm nach. Immer und immer wieder. Er ist voller Leidenschaft.»
Von Position 547 in die Top 20
Sheltons Beispiel zeigt, wie schnell es im Tennis gehen kann. 2021 war als Neuling noch die Nummer 5 in seinem Collegeteam, den Florida Gators. 2022 gewann er die nationalen College-Einzelmeisterschaften. Im Juni jenes Jahres noch die Nummer 547 der Welt, spielte er sich im Herbst mit drei Challenger-Titeln in Serie in die Top 100. Darauf entschied er sich, seine Ausbildung an der Universität Florida nach zwei Jahren abzubrechen, um auf Profi zu setzen. Dank seines Siegeszugs am US Open stösst er erstmals in die Top 20 vor.
Interessant ist: Roger Federer hatte den talentierten Linkshänder schon früh auf dem Radar. Bereits vor dessen Durchbruch am Australian Open nahm ihn Team8, die Managementagentur von Federer und Tony Godsick, unter Vertrag. Und Federer empfahl Shelton On, als der Schweizer Sportartikelhersteller in diesem Frühjahr ins Tennis expandierte. «Wir haben einen regen Austausch mit Roger, was seine Einschätzungen zu Spielerinnen und Spielern betrifft», sagt Co-CEO Marc Maurer. «Er hat eine sehr klare Meinung.» Seit November 2021 ist Federer ja Mitbesitzer bei On.
Bei On reibt man sich die Hände
In der Firmenzentrale in Zürich reibt man sich angesichts des Höhenflugs von Shelton die Hände. Zumal dieser anders als Iga Swiatek auch bereits mit On-Schuhen spielt. Mit seinem ärmellosen Shirt, seinem Bizeps und dem Linkshänderspiel erinnert er aber eher an Rafael Nadal als an Federer. Er kommt daher wie eine Naturgewalt, stellte am US Open mit einem 240 km/h schnellen Aufschlag einen Rekord auf. Er müsse ihn bremsen, nicht antreiben, sagt sein Vater. Ben Shelton führt seinen rasanten Aufstieg vor allem darauf zurück, dass er in den letzten zwei Jahren körperlich gereift ist. «Das hat mein ganzes Spiel verändert.»
Vater Bryan spielte auch auf der Tour, schaffte es bis auf Rang 55 und stiess 1994 in Wimbledon als Qualifikant bis in den Achtelfinal vor. Unter anderem mit einem Sieg über Michael Stich. In den Teenagerjahren seines Sohnes schlug er mit diesem jeweils um 6.45 Uhr Bälle, bevor Ben in die Schule ging. An der Universität Florida war er nun Coach des Collegeteams, in dem sein Sohn mitspielte. Diesen Job verliess er erst im Juni, um mit Ben die Tenniswelt zu bereisen, als er spürte, dass es dieser ernst meint.
Vater-Sohn-Beziehungen im Tennis bergen Konfliktpotenzial, wie man etwa bei Stefanos Tsitsipas sieht. Der Grieche kann sich nicht von seinem Vater Apostolos lösen, obschon sie sich während Matches oft anschreien. Auch er müsse manchmal Dampf ablassen, sagt Ben. Aber ihm sei ein guter Vibe in seiner Box wichtig. Wenn sie sich einmal streiten würden, entschuldige sich einer spätestens eine Stunde danach. Niemand spiele die beleidigte Leberwurst.
«Manchmal musst du verlieren, um zu lernen. Ich bin in den letzten acht Monaten als Mensch extrem gewachsen.»
Und es ist ja nicht so, dass Ben und Bryan in den letzten Monaten nur Erfolge gefeiert hätten. Seit dem Australian Open gewann er an 18 ATP-Turnieren nur gerade sieben Matches. Ehe er nun in New York auf der grössten Bühne wieder brilliert. Er sagt: «Manchmal musst du verlieren, um zu lernen. Ich bin in den letzten acht Monaten als Mensch extrem gewachsen. Mit all den Erfahrungen, die ich machte, den vielen Orten, die ich bereiste, den neuen Unterlagen, auf denen ich spielte. Das alles hat mir geholfen, mich zu dem Spieler zu machen, der ich nun bin.»
Für einen 20-Jährigen klingt Ben Shelton erstaunlich reflektiert. So sagte er kürzlich auch in einem Platzinterview in New York: «Ich lernte, dass ich nicht nur ein Tennisspieler bin, der auf dem Court eine Show zeigt und Matches gewinnt. Die Jungen schauen auch darauf, wie ich den anderen Menschen begegne. Ich hoffe, viele entwickeln auch eine Leidenschaft für Tennis, wenn sie mich spielen sehen.» Seine gute Laune ist jedenfalls ansteckend.
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