Interview zu erotischem Kapital«Für unseren Erfolg ist es entscheidend, ob wir begehrenswert sind»
Jule Govrin untersucht, wie Begehren im Zeitalter von Social Media und «Queer Eye» funktioniert. Wir müssten uns heute alle sexy finden – denn wir würden permanent von anderen bewertet.
Jule Govrin, in der Toilette hat jemand «You are sexy» auf den Spiegel geschrieben. Da sind wir ja mitten in Ihrem Thema. Brauchen wir heute permanent Bestätigung, dass wir attraktiv sind?
Ob wir sie brauchen, sei einmal dahingestellt, zumindest werden wir heutzutage ständig dazu aufgerufen, uns als begehrenswert wahrzunehmen. Dementsprechend sollen wir uns präsentieren. Die verstecke Logik solcher Botschaften wie am Spiegel lautet: Wenn wir uns selbst als attraktiv wahrnehmen, schlägt sich das in der Aussenwirkung nieder. Der Satz «You are sexy» fasst diesen allgegenwärtigen Appell zusammen, dass wir uns als sexuelle Wesen inszenieren und authentisch auftreten sollen.
Sie haben eine ganze Theorie des «Begehrenswerts» entwickelt: Damit wir im Wettbewerb der Aufmerksamkeit mitmachen können, müssen wir uns attraktiv präsentieren. Ist denn Begehren etwas Schlechtes?
Überhaupt nicht. Wir werden ja erst zu sozialen Wesen, weil wir die Anerkennung von anderen begehren. Das heisst, wir lernen den Umgang mit anderen Menschen, indem uns unser Begehren in Bezug zu anderen setzt. Diese Beziehungen müssen nichts mit Bewertungen zu tun haben.
Aber heute haben sie es?
Im Zuge einer eher skeptischen Gegenwartsdiagnose scheint mir, dass es derzeit eine sehr enge Verbindung von Beurteilung und Begehren gibt. Selbst für unseren wirtschaftlichen Erfolg ist es entscheidend, ob wir als begehrenswert wahrgenommen werden. Die ökonomische Logik schreibt sich sozial ein, dass wir ästhetische Arbeit an uns leisten müssen, um als attraktiv und authentisch angesehen zu werden.
Wenn diese Beziehungen immer sozial sind, heisst dies, dass am Ende immer die anderen über meine Attraktivität entscheiden?
Natürlich zielt der Appell, sich als möglichst einzigartig zu präsentieren, zuerst einmal auf die einzelne Person. Aber wir leben ja nicht als abgekapselte Individuen in unserer eigenen kleinen Welt. Wir sind alle eingebunden in ein soziales Anerkennungsgeschehen. Unsere Selbstwahrnehmung als begehrenswert hängt also immer von der Bewertung anderer ab. Das ist auch der Grund, weshalb wir Selfies machen. Wir fotografieren uns selbst, aber worum es wirklich geht, ist das soziale Publikum.
Wenn ich gar keine Selfies mache – habe ich dann verloren?
Sie ersparen sich vor allem jede Menge Stress. Natürlich ist es auch eine lustvolle Tätigkeit, sich selbst zu inszenieren. Aber vor allem sind Selfies Teil der ästhetischen Arbeit, die heutzutage erforderlich ist. Diese Arbeit kann durchaus Stress erzeugen, weil sie mit einer gewissen Leistung verbunden ist. Selfies sind ja immer davon abhängig, wie viele Likes es dafür gibt.
Sie beschreiben in Ihrem Essay einen fast schon kriegerischen Wettbewerb: Es gibt Influencer, die gegen ihre «Hater» kämpfen, und auf Dating-Apps muss man sich gegen Mitbewerber durchsetzen. Ist Sexyness immer Konkurrenzkampf?
Das scheint mir doch ein wenig überspitzt. Auf jeden Fall findet sich eine gewisse kriegerische Rhetorik. So etwa bei Influencern, die sich, sobald sie kritisiert werden, postwendend gegen ihre angebliche «Hater» richten. Dieses Konkurrenzstreben äussert sich in einer starken Freund-Feind-Rhetorik und ist in ein ökonomisches Storytelling eingebunden, das uns heute umgibt: Die Einzelperson soll sich dank ihrem individuellen Siegeswillen gegen andere durchsetzen.
Und das zieht sich durch die Gesellschaft?
Auf andere Art und Weise benutzen Datingplattformen wie Tinder das kriegerische Vokabular, allerdings vor dem Hintergrund der Algorithmen. Tinder setzt den sogenannten ELO-Score ein, dieses Bewertungssystem kommt ursprünglich aus dem Schachspiel: Den Profilen wird ein bestimmter Wert zugewiesen, und wer einen «Match» hat mit einem Profil, das einen höheren Wert aufweist, erhöht automatisch seinen eigenen Wert. Man hat es dann quasi weiter hoch geschafft.
Sind Influencer und Influencerinnen typisch für eine Gesellschaft, in der Attraktivität und Leistung so eng miteinander verbunden sind?
An Influencern kann man anschaulich sehen, wie zentral der Begehrenswert geworden ist. Sie schaffen es, Attraktivität anzuhäufen und unmittelbar in ökonomischen Wert umzurechnen. Influencer sind eine Art Schnittstelle, an der deutlich wird, was sonst eher diffus bleibt: die Übersetzung von erotischem in direktes monetäres Kapital.
Und wenn es nicht klappt mit dem erotischen Kapital, kann man nachhelfen, zum Beispiel indem man in einer Makeover-Sendung wie «Queer Eye» teilnimmt und von Stylisten oder Einrichtungsberatern instruiert wird.
«Queer Eye» hat ja empathische Momente. Ich sehe da durchaus eine Form von Selbstsorge, und es gibt ernsthafte Versuche von Ermächtigung. Aber wir sehen auch die andere Seite, die Selbstvermarktung. In «Queer Eye» richten Kandidatinnen und Kandidaten nicht nur ihr Leben neu ein, sie sollen beispielsweise auch ihre Firma auf die Beine stellen. Da geht es darum, wie sie sich selbst als Marke und authentische Persönlichkeit verkaufen können. So schleicht sich dann wieder das ökonomische Storytelling ein.
Sie erwähnen in Ihrem Buch immer wieder die Authentizität: Wer im Wettbewerb mitmischen will, muss möglichst authentisch wirken. Aber mal ehrlich, in einem Trendcafé in einer europäischen Stadt sehen die Menschen heute doch alle gleich aus. Oder nicht?
Daran erkennt man, wie stark Individualität dem Wettbewerbsdenken unterliegt. Die sozialen Bewertungsraster erlauben ja relativ wenig Raum für freie Selbstentfaltung. Das heisst, es wird beharrlich betont, dass wir uns als einzigartige Personen präsentieren sollen. Gleichzeitig wird genau das verunmöglicht. Weil wir eben in die konkurrenzgetriebenen Bewertungsraster eingebunden bleiben, sodass sich am Ende doch alle irgendwie nach einer unterschwelligen Norm ausrichten. Natürlich liegt ein Grund auch darin, dass nicht alle dieselben Möglichkeiten haben, sich in Bezug auf Bildung, Wohnen oder Mobilität frei zu entfalten.
Oder in Bezug auf das, was wir essen.
Das stimmt, Ernährung als Mittel der sozialen Distinktion ist enorm wichtig geworden. Das geht einher mit der Fitnesskultur und den Körperbildern in den sozialen Medien. Mir fällt auf, dass heute oft mit grosser Überheblichkeit vorgetragen wird, was als richtige oder korrekte Ernährung gilt. Es werden Forderungen gestellt, und gleichzeitig wird weitgehend ausgeblendet, wer überhaupt die Möglichkeiten hat, sich rundum gesund zu ernähren.
Sprich: Wer im Kampf um den Begehrenswert mitmacht, muss sich gewisse Dinge leisten können. Das funktioniert aus Ihrer Sicht aber nur, wenn die, die konsumieren, jene ausbeuten, die die Dinge herstellen.
Das ist die Verdrängungsgesellschaft: Wir kuratieren unsere Persönlichkeit, unser Aussehen, unseren Körper mit bestimmten Produkten, aber diese Pflege unseres Selbst ist nur möglich dadurch, dass es Ausbeutung gibt, sowohl im globalen Süden als auch im globalen Norden. Doch ich glaube: Angesichts der Vielfachkrisen, in denen wir uns befinden, werden viele dem Inszenierungsstil im Wettbewerb um Begehrenswert überdrüssig.
Glauben Sie?
Wir befinden uns mitten in einer Klimakatastrophe, die Care-Arbeit ist komplett überlastet und zutiefst ungerecht verteilt. Das sind heute alles elementare Fragen. Da müssen wir alle wegrücken von diesem Bewertungsspiel um uns selber. Und uns stattdessen viel stärker um die sozialen Beziehungen kümmern. Wie können wir uns in die gemeinschaftliche Organisation einbringen? Wie befreien wir uns vom Zwang, uns mit den Mitteln des Konsums selbst darzustellen? Heute machen das ja viele Menschen schon: Es gibt genug Leute, die sich etwa in Nachbarschaftsinitiativen engagieren. Wenn wir uns überlegen, was wir alles gemeinsam bewirken könnten, werden die Fragen des ästhetischen Konsums unwesentlich.
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