Ticker zur MedienkonferenzBundesrat erklärt Rahmenabkommen für tot
Die EU wurde bereits informiert. Die Landesregierung hat nun aufgezeigt, wie es mit dem Verhältnis zu Europa weitergehen soll. Wir berichteten live.
Das Wichtigste in Kürze:
Die siebenjährigen Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU sind ohne Ergebnis zu Ende gegangen.
Jetzt hat der Bundesrat die Verhandlungen abgebrochen.
Er informierte am Mittwoch die EU-Kommission über diesen Entscheid.
«Das ist kein schwarzer Mittwoch», sagte Parmelin. Man sei vielmehr am Beginn «eines neuen Kapitels» im Verhältnis mit der EU.
Diverse Reaktionen aus dem Ausland fallen negativ aus.
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Scharfe Kritik aus dem EU-Parlament
Der Schweizer Bundesrat richte mit seiner Entscheidung gegen das Rahmenabkommen «erheblichen Flurschaden» an, sagt der EU-Abgeordnete Andreas Schwab. Der deutsche Christdemokrat leitet im Europaparlament die Delegation, die für die Beziehungen zur Schweiz zuständig ist. Sieben Jahre der Verhandlungen und «zuletzt geduldigen Abwarten» seien sinnlos vergeudet worden: «Es haben sich einige wenige Hardliner in der Schweizer Verwaltung durchgesetzt, die bei einer Volksabstimmung wohl verloren hätten». Andreas Schwab sieht den Bundesrat jetzt vor einem «Scherbenhaufen». Solange in der Schweiz Vorurteile zur EU dominierten, sei es schwierig, die künftige Zusammenarbeit zu organisieren, so der EU-Abgeordnete: «Die offenen Fragen im Verhältnis Schweiz-EU bleiben, kein Problem wird mit einer Ablehnung des Rahmenabkommens gelöst».
Bundesrat will Kohäsionsgelder auszahlen
«Die Schweiz bleibt auch ohne das institutionelle Abkommen eine zuverlässige Partnerin der Europäischen Union», sagt Cassis.
Der Bundesrat werde sich für eine rasche Deblockierung der Kohäsionsgelder von 1,3 Milliarden Franken durch das Parlament einsetzen.
In einem «politischen Dialog» will der Bundesrat mit der EU eine «gemeinsame Agenda» für die weitere Zusammenarbeit entwickeln.
Wie weiter mit der Forschung?
Beim neuen EU-Forschungsprogramm Horizon Europa plane der Bundesrat je nach Position der EU verschiedene Szenarien.
Jetzt redet Cassis über Nachteile
Der Bundesrat sei sich bewusst, dass das Scheitern Nachteile bringen werde. Das habe er schon immer so kommuniziert. So sei die EU nicht bereit, ohne InstA neue Marktzugangsabkommen abzuschliessen oder bestehende zu aktualisieren.
Zudem habe die EU-Kommssion themenfremde Felder mit dem InstA verknüpft, etwa die Forschungs-Zusammenarbeit und Börsen-Äquivalenz. Der Bundesrat weise diese Verknüpfungen als «sachfremd» zurück.
«Bundesrat hatte kaum mehr Spielraum»
Auch beim Lohnschutz gebe es zu grosse Differenzen. Hier sei die EU nicht bereit gewesen, die flankierenden Massnahmen zu gewährleisten, ohne dass der Europäische Gerichtshof dabei hätte mitreden können.
Cassis argumentiert, die Schweiz wäre bereit gewesen, «grosse Konzessionen» zu machen, namentlich mit der dynamischen Rechtsübernahme und der Rolle des Europäischen Gerichtshofes in der Streitschlichtung. Schon diese Elemente hätten innenpolitisch «eine grosse Kompromissbereitschaft» vorausgesetzt.
Angesichts dieser Konzessionen habe die Schweiz bei den erwähnten Streitpunkten hart bleiben müssen. «Der Bundesrat hatte kaum mehr Spielraum», so Cassis. Es gehe bei den drei Streitpunkten um «wesentliche Interessen der Schweiz».
PR-Offensive der EU-Kommission
Brüssel ist auf den Übungsabbruch der Schweiz beim Rahmenabkommen vorbereitet. Die EU-Kommission hat ein sogenanntes Factsheet zu den bilateralen Beziehungen und den Verhandlungen der letzten Jahre aktualisiert, ergänzt durch eine Aufstellung der Folgen eines No deals. Es geht der EU darum klar zu machen, was die Schweiz mit dem Übungsabbruch aufs Spiel setzt. Neu ist insbesondere, dass die EU auch mit Konsequenzen mit Blick auf den Handel mit Landwirtschaftsprodukten droht. Das Abkommen über den Handel mit Landwirtschaftsprodukten könne möglicherweise in Zukunft nicht mehr aktualisiert werden, heisst es im Papier. Dies könnte unter anderem den Import von Gemüse aus Drittstaaten in die Schweiz erschweren. Weil Etiketten nicht mehr harmonisiert werden können, dürften es Schweizer Produzenten zudem auf absehbare Zeit schwieriger haben, ihre Produkte in den EU-Binnenmarkt zu exportieren. Hier das Factsheet der EU: https://bit.ly/3fQ4lTi und die Aufstellung der Folgen eines No Deals: https://bit.ly/2SvvQtz
«Unüberwindbare Differenzen»
In den letzten Monaten hätten beide Seiten «mit grossem Engagement» für eine Einigung und eine Klärung der offenen Punkte gearbeitet, sagt der Aussenminister, in dessen Zuständigkeit das gescheiterte InstA fällt. «Aber, man muss es so sagen: Es blieben substanzielle, unüberwindbare Differenzen», sagt Cassis.
Das Hauptproblem liege in der Interpretation der Personenfreizügigkeit, sagt Cassis. Für die Schweiz umfasse die Freizügigkeit nur Arbeitnehmer und ihre Angehörigen, die EU jedoch habe das Konzept mit der Unionsbürgerrichtlinie auf alle ihre Bürger ausgeweitet. Die Schweiz habe die Schweiz nicht übernehmen können, weil es grosse Folgen für die Schweizer Sozialhilfe und einen Paradigmenwechsel bedeutet hätte.
An drei Streitpunkten gescheitert
Laut Parmelin gibt es in den drei Streitpunkten keine befriedigenden Lösungen, welche eine Unterzeichnung des Abkommens ermöglichen würden:
Beim Lohnschutz (flankierende Massnahmen)
Bei den staatlichen Beihilfen
Bei der Unionsbürgerrichtlinie, welche die Schweiz nicht übernehmen will.
Parmelin erklärt das Abkommen für tot
«Der Bundesrat hat entschieden, die Verhandlungen über den Entwurf des institutionellen Abkommen zu beenden», erklärt Parmelin. Das habe er der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, schriftlich mitgeteilt. Staatssekretärin Livia Leu sei heute extra nach Brüssel gereicht, um der EU den Brief persönlich zu überbringen.
Drei Bundesräte erläutern den Entscheid
Bundespräsident Guy Parmelin (SVP) tritt mit zwei Kollegen vor die Medien, mit Aussenminister Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter (beide FDP). Begleitet werden sie von mehreren Chefbeamten.
Bundesrat bricht Verhandlungen mit EU über ein Rahmenabkommen ab
Die siebenjährigen Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU sind ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Der Bundesrat brach die Verhandlungen ab. Er habe am Mittwoch die EU-Kommission über diesen Entscheid informiert.
«Die Verhandlungen über den Entwurf des InstA sind somit beendet», teilte der Bundesrat im Anschluss mit. Laut der Regierung ist es aber im gemeinsamen Interesse der Schweiz und der EU, «die bewährte bilaterale Zusammenarbeit zu sichern und die bestehenden Abkommen konsequent weiterzuführen».
Das Justizdepartement von Karin Keller-Sutter wurde beauftragt, zu prüfen, wie das bilaterale Verhältnis «mit möglichen autonomen Anpassungen im nationalen Recht stabilisiert werden könnte», wie es weiter hiess.
Die einseitige Anpassung des Schweizer Rechts an die EU-Bestimmungen wird auch «Stabilex» genannt. Die Idee hinter dieser Strategie ist, mit einer einseitigen Rechtsübernahme in politisch unumstrittenen Bereichen der EU entgegen zu kommen.
Ausserdem will sich der Bundesrat beim Parlament dafür einsetzen, die versprochene Kohäsionsmilliarde frei zu geben. Vorgesehen sind 1,3 Milliarden Franken. Definitiv entscheiden über den Kohäsionsbeitrag kann nur das Parlament.
Unterhändlerin Leu in Brüssel
Die Schweiz bemühte sich am Dienstagabend um ein Telefongespräch zwischen Bundespräsident Guy Parmelin mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, wie die Nachrichtenagentur Keystone-SDA aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr.
Das Gespräch kam dem Vernehmen nach jedoch nicht zustande, weil die Schweiz keine näheren Angaben zum Gesprächsinhalt machen wollte. Daher reiste Staatssekretärin Livia Leu am Mittwoch nach Brüssel.
Verhandlungen seit 2014
Die Schweiz und die EU verhandelten seit rund sieben Jahren über ein institutionelles Rahmenabkommen zur Regelung der künftigen Beziehungen. Ende September 2018 teilte der Bundesrat mit, die Verhandlungen seien in diversen Punkten weit fortgeschritten, es blieben aber einige schwierigen Themen. Dazu gehörten insbesondere die EU-Unionsbürgerrichtlinie, die flankierenden Massnahmen und eine geplante Änderung des EU-Sozialversicherungsrechts. Im Dezember 2018 veröffentlichte der Bundesrat den Verhandlungstext und führte eine Konsultation durch.
Im Juni 2019 teilte der Bundesrat mit, dass Abkommen vorläufig nicht zu unterzeichnen. Er beurteilt das Verhandlungsergebnis zwar insgesamt positiv, verlangte aber «Klärungen».
Ende April reiste Bundespräsident Parmelin nach Brüssel, um EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu treffen. «So können wir das Abkommen nicht unterzeichnen», sagte er nach dem Treffen.
Staatssekretärin Livia Leu in Brüssel
Die EU-Kommission bestätigt, dass Staatssekretärin Livia Leu in Brüssel ist, um EU-Chefunterhändlerin Stéphanie Riso über den Entscheid des Bundesrats beim Rahmenabkommen zu informieren. Ursprünglich wollte Bundespräsident Guy Parmelin Kommissionschefin Ursula von der Leyen per Telefon am Dienstag vorab ins Bild setzen. Von der Leyen habe gefragt, was der Anlass des Gesprächs sei, doch die Schweizer Seite habe dazu nichts sagen wollen, so EU-Kreise. Die Kommissionspräsident war am Dienstag noch mit dem EU-Gipfel absorbiert. Das Gespräch sei darauf nicht zustande gekommen. Deshalb sei Leu dann persönlich nach Brüssel gereist.
Was passiert nach dem Scheitern?
Schlimm oder nicht so schlimm? Die Erwartungen über die Folgen des Scheiterns des InstA gehen in der Bevölkerung weit auseinander. Das zeigen repräsentative Befragungen, die die Universität zwischen September 2020 und Februar 2021 durchgeführt hat.
Eine Schlüsselerkenntnis der Studie besteht darin, dass die Unterstützerinnen und Unterstützer des Abkommens grössere Negativfolgen für die Schweiz erwarten als die Gegnerinnen und Gegner. Die ganze Studie lesen Sie hier.
Zum Thema – Schweiz am Abgrund? Es gibt keinen Beleg für diese Szenarien
Ausgangslage
Seit Wochen wird er erwartet, heute soll der Bundesrat ihn endlich fällen: den formellen Entscheid, die Verhandlungen mit der EU um ein institutionelles Rahmenabkommen (InstA) abzubrechen. Es ist der Schlussstrich unter ein Drama, das exakt sieben Jahre gedauert hat. Die Verhandlungen mit der EU hatten am 22. Mai 2014 begonnen; seit Ende 2018 liegt ein Abkommensentwurf auf dem Tisch.
Dass das vorliegende Abkommen im Bundesrat keine Mehrheit findet, ist schon seit längerem absehbar. Ein letzter Anlauf von Mitte-Bundesrätin Viola Amherd für einen Kompromiss ist vor zwei Wochen gescheitert (Lesen Sie hier: Das ist Amherds Geheimplan für einen Deal mit der EU). Ausser Amherd äusserte auch Simonetta Sommaruga (SP) Bedenken, die Verhandlungen abzubrechen. Doch selbst der zuständige Aussenminister Ignazio Cassis hat die Hoffnung aufgegeben, das Abkommen zu retten.
Dass die Landesregierung den definitiven Abbruchentscheid trotzdem seit Wochen vor sich herschiebt, liegt daran, dass sie zuerst eine Art Plan B entwerfen wollte. Dieser soll dazu dienen, den Abbruchsentscheid so zu vermitteln, dass die EU - die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz — nicht total vor den Kopf gestossen ist.
Zudem versucht der Bundesrat offenbar, den Entscheid möglichst im Konsens zu treffen und nicht in einer Abstimmung. Die spannendste Frage wird heute daher nicht der Abbruch-Entscheid als solcher sein, sondern die Frage, wie ihn der Bundesrat nach aussen kommuniziert - und mit welchen Massnahmen er ihn abfedert.
Folgende Elemente könnte der Plan B enthalten:
Der Bundesrat stellt der EU in Aussicht, die seit Jahren blockierte Kohäsionsmilliarde endlich auszuzahlen. Denkbar ist, dass die Regierung sogar anbietet, den ursprünglichen Betrag von 1,3 Milliarden Franken zu erhöhen. Definitiv zusichern kann der Bundesrat dies der EU heute aber nicht, weil der Entscheid über die Kohäsionsmilliarde beim Parlament liegt.
Zudem plant der Bundesrat gemäss Medienberichten ein internes Reformprogramm namens Stabilex. Unter diesem Titel würde die Schweiz ihr Recht überall dort selbstständig ans EU-Recht anpassen, wo dies unproblematisch ist. Das soll einerseits die EU besänftigen - und andererseits wirtschaftliche Nachteile abmildern, wenn die EU sich weiterhin weigert, gewisse bilaterale Verträge aufzudatieren.
Die Schweiz könnte auch ihren Lohnschutz (flankierende Massnahmen) leicht anpassen, etwa durch eine Senkung der von der EU kritisierten Voranmeldefrist von 8 Tagen. Dazu könnten allenfalls sogar die Schweizer Gewerkschaften Hand bieten, solange die Schweiz die volle Kontrolle darüber behält und der Europäische Gerichtshof die Flankierenden nicht ausser Kraft setzen kann (wie es gemäss Rahmenabkommen möglich gewesen wäre).
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