Kampf gegen die OppositionErdogan will seine Gegner mit einem Politikverbot belegen
Die türkische Justiz strebt ein Verbot der grössten Oppositionspartei an. Unterdessen schwindet der Rückhalt für Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Nachdem die türkische Justiz ein Verbotsverfahren gegen die prokurdische HDP eingeleitet hatte, ruft die linksgerichtete Partei nun alle demokratischen Kräfte des Landes zum Zusammenschluss gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf. Die HDP-Co-Vorsitzende Pervin Buldan sagte, «bei den kommenden Wahlen werden wir denen eine Lektion erteilen». Erdogans inoffizieller Koalitionspartner Devlet Bahçeli, Führer der rechtsnationalistischen MHP, begrüsste den Verbotsantrag hingegen als Beleg für «Recht und Gerechtigkeit». International hagelte es Kritik für das Vorgehen der türkischen Justiz.
Der Generalstaatsanwalt des obersten Gerichtshofs hatte am Mittwoch beim Verfassungsgericht Klage gegen die drittstärkste Oppositionspartei im Parlament eingereicht. Die HDP-Mitglieder unterstützten die kurdische Untergrundorganisation PKK, die auch in den USA und in der EU als Terrorgruppe gelistet ist, so die Anklage. Die Partei unterstütze den kurdischen Separatismus und wolle «die Integrität des Staates» untergraben. Ebenfalls am Mittwochmorgen hatte das Parlament dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu die Immunität entzogen. Er muss für das Liken einer Nachricht und angebliche Terrorpropaganda eine Haftstrafe von 30 Monaten antreten.
Scharfe Reaktion aus Washington
Erdogans inoffizieller Koalitionspartner Bahçeli, der seit Monaten ein HDP-Verbot fordert, sagte: «Die HDP ist eine kriminelle Organisation, die sich einen politischen Mantel umgehängt hat.» Das Verbot müsse so umfassend ausfallen, dass die Partei nicht unter neuem Namen wieder antreten könne. Auf einem MHP-Parteitag, auf dem Bahçeli im Amt bestätigt wurde, sprach er von einer «Ehrenpflicht gegenüber den nächsten Generationen».
Aus den USA kam umgehend eine scharfe Reaktion. Eine Auflösung der HDP würde den Willen der türkischen Wähler und die Demokratie untergraben, erklärte das Aussenministerium. Auch aus der EU kam Kritik. Das türkische Aussenministerium wies die Kritik zurück. «Jeder muss das Urteil, das das Verfassungsgericht in diesem Prozess fällen wird, abwarten. Äusserungen zu einem laufenden Gerichtsverfahren kommen einer Einmischung in die Justiz gleich.»
Im kurdischen Südosten bindet die HDP die Mehrheit der Wähler, in den Grossstädten wird sie auch von der eher linken Mittelschicht unterstützt.
Über ein Verbot der HDP war seit längerem spekuliert worden. Die Regierung übt seit Jahren Druck auf die Partei aus. Zahlreiche Mitglieder wurden unter Terrorvorwürfen festgenommen, gewählte HDP-Bürgermeister des Amtes enthoben. Präsident Erdogan hatte allerdings erst Anfang März angekündigt, die Menschenrechtslage im Land verbessern und den Rechtsstaat stärken zu wollen.
Die Gründe für das angestrebte Verbot liegen auf der Hand: Die Regierung verliert seit Monaten an Rückhalt. Sowohl der Präsident als auch seine Regierungspartei AKP und die sie unterstützende MHP verlieren deutlich an Zustimmung. Bei möglichen Wahlen gilt die HDP als Königsmacherin: Im kurdischen Südosten bindet sie die Mehrheit der Wähler, in den Grossstädten der gesamten Türkei wird sie von Kurden, aber auch von der eher linken Mittelschicht unterstützt. Das ist gefährlich für Erdogan: Sollte die HDP die führende sozialdemokratische Oppositionspartei CHP unterstützen, kann diese zusammen mit anderen Oppositionsparteien Mehrheiten gewinnen. Wahlen von Präsident und Parlament stehen im Juni 2023 an. Es wird spekuliert, dass Erdogan die Wahlen vorziehen könnte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dem Verbotsantrag stattgegeben wird, ist hoch: Die Justiz erscheint zunehmend als Instrument der Regierung. Der Rechtsstaat wird nach Ansicht türkischer und internationaler Kritiker ausgehöhlt. So gilt Bekir Sahin, der Generalstaatsanwalt des obersten Gerichts, der die Anklage gegen die HDP eingebracht hat, als Günstling Erdogans.
687 Namen
Auffällig ist, wie umfassend die Anklage ist. So werden Medienberichten zufolge 687 Namen von HDP-Politikern erwähnt, denen ein fünfjähriges Politikverbot droht. Die Namen umfassen alle namhaften prokurdischen Politiker: etwa den seit 2016 inhaftierten ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas, die amtierenden Parteivorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar oder die weltweit bekannte Kurdenpolitikerin Leyla Zana. Dazu kommen Abgeordnete, Bürgermeister und bekannte Persönlichkeiten. Hinzu kommen bekannte Ex-HDP-Politiker wie Altan Tan oder der Investigativjournalist Ahmet Sik.
Offenbar soll so verhindert werden, dass die HDP sich nach einem Verbot unter einem neuen Namen neu konstituiert. Dies ist nach Verboten anderer kurdischer Parteien geschehen: Auch die HDP hat sich in der Nachfolge verbotener Kurdenparteien 2012 gebildet. Ähnlich ging der Staat nach dem Militärputsch von 1980 vor. Damals wurde gegen führende Politiker von 18 Parteien ein Politikverbot von zehn Jahren verhängt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.