Ukraine-Dilemma der TürkeiErdogan kritisiert Russland, ist aber auf Putin angewiesen
Die Türkei verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine. Kommt es deswegen zum Streit mit dem Kreml, droht ihr eine Energie- und Weizenkrise.
Wäre Recep Tayyip Erdogan nicht Präsident der Türkei, sondern Seiltänzer, müsste man sich Sorgen machen, dass er doch einmal das Gleichgewicht verlieren könnte. Nun ist Erdogan zwar kein hauptberuflicher Akrobat, er führt trotzdem seit einigen Jahren einen ziemlich eigensinnigen Balanceakt auf im Umgang mit Russland.
Bisher hat Erdogan dieses seltsame Spiel immer halbwegs unbeschadet überstanden. Es ist ein raffiniertes, vielleicht aber nicht immer wirklich bis zum Ende durchdachtes Vorgehen. Dabei können eben Erdogan so wie Wladimir Putin sich immer wieder Vorteile sichern, es fallen aber auch die risikoträchtigen Widersprüche auf.
Infolge des Überfalls Russlands auf die Ukraine dürfte der türkische Balanceakt aber schwieriger werden. So besteht Ankara nun offiziell darauf, «keinerlei Schritte zur Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine zu akzeptieren». Dies könnte den Völkerrechtsbrecher Putin, der sein Nachbar- und Bruderland mit Krieg überzieht, weiter verärgern.
Türkei liefert Kampfdrohnen an Ukraine
Zumal Erdogan schon 2014 Moskaus ebenfalls völkerrechtswidrige Annexion der Krim kritisiert hatte. Dass der Schwarzmeer-Staat Türkei seinem Nachbarn Ukraine nicht nur seine gefürchteten Kampfdrohnen geliefert, sondern auch die gemeinsame Entwicklung und den Bau solcher Waffen begonnen hat, wird dem Kreml ebenso wenig gefallen haben. Erdogans doppelgesichtiges Vorgehen trägt ihm immer wieder Kritik ein.
Ob es der vor Kurzem erfolgte Kauf russischer S-400-Luftabwehrraketen durch das jahrzehntelange Nato-Mitglied Türkei ist, der Bürgerkrieg mit den seltsam verteilten Rollen in Syrien oder die Lieferung von Drohnen an Kiew: Erdogan stösst von der Nato bis zu Moskau alle vor den Kopf und macht es dann doch auch wieder allen und sich selbst recht. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Putin hat Erdogan in der Hand».)
Vor dem Hintergrund des gerade erst beginnenden russisch-ukrainischen Kriegs könnte das nun aber sehr viel schwieriger werden. Der russische Überfall auf das Schwarzmeer-Land Ukraine zwingt die Nato, die eigenen Reihen enger zu schliessen. Weitere türkische Drohungen etwa gegen den Nato-Partner Griechenland im östlichen Mittelmeer oder weitere Bestellungen russischer S-400-Raketenbatterien dürfen auf noch klarere Ablehnung stossen als bisher. Ankara wiederum ist in einigen Bereichen abhängig von Moskau.
Türkische Wirtschaft braucht Russland
Die Türkei ist ein Land mit geringen Vorkommen an Erdgas und Rohöl und vor allem bei den Energie- und Rohstoffimporten auf Moskau angewiesen. 33 Prozent der 50 Milliarden Kubikmeter Erdgas, die das Land jährlich verbraucht, kommen aus Russland. Beim Erdöl sind es knapp 18 Prozent.
Auch die Lebensmittelsicherheit des 85-Millionen-Landes ist eng mit dem Verhältnis zu Moskau verknüpft. Knapp 65 Prozent des in der Türkei verarbeiteten Weizens kommen inzwischen aus den fruchtbaren Ebenen Russlands. Weitere fast 14 Prozent liefert die Ukraine.
Abhängig ist das beliebte Reiseland Türkei auch beim Tourismus.
Sollte Erdogan wegen des Kriegs um die Ukraine in Streit mit Putin geraten, könnte das sowohl zu einer Energie- als auch zu einer Weizenkrise führen. Mit allen Risiken, die weiter anwachsende Energiekosten, steigende Brotpreise oder gar Brotknappheit in einem politisch polarisierten Land wie der Türkei bedeuten.
Wirtschaftlich abhängig ist das beliebte Reiseland auch beim Tourismus. Feriengäste aus Moskau, Petersburg oder Tomsk, aber auch aus der Ukraine machen gut ein Drittel der Touristen in der Ferienhochburg Antalya aus. Für andere türkische Touristenzentren lesen sich die Zahlen ähnlich, ein Viertel der Türkei-Besucher insgesamt sind Russen und Ukrainer.
Bei einer früheren Krise zwischen Ankara und Moskau wegen des Syrien-Krieges hatte Putin den russischen Tourismus schon einmal zum Erliegen gebracht – auch dies bleibt also in Zukunft ein Druckmittel Putins.
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