Erdbeben in Marokko Die Helfer stehen bereit, die Hilfe aber läuft nur schleppend an
Die Zahl der Opfer der Naturkatastrophe steigt. Vielerorts ist die Lage verheerend. Marokkos Regierung hält sich dennoch zurück, internationale Hilfe anzufordern. Auch der König hat es nicht eilig.
In Marokko herrscht nach dem schwersten Erdbeben seit mehr als einem Jahrhundert Chaos und Verzweiflung. Der Einsatz internationaler Rettungsteams läuft nur schleppend an. Länder wie Spanien und Tunesien haben bereits Suchtrupps und Sanitäter entsandt, während andere, darunter die Schweiz, noch auf Anfragen warten.
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat ein achtköpfiges Team des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe zusammengestellt. Die Behörden im nordafrikanischen Land hätten noch nicht auf das Hilfsangebot reagiert, schrieb das EDA am Sonntagvormittag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Das Team aus acht Expertinnen und Experten stehe für den Einsatz bereit.
Die Schweiz bot Marokko Hilfe für Notunterkünfte, Wasseraufbereitung und -verteilung, sanitäre Einrichtungen und Hygienematerial an. Das Experten-Team werde die Materiallieferungen begleiten, hiess es. Informationen über Schweizer Opfer gab es auch am Sonntag nicht.
Auch das deutsche Technische Hilfswerk und auf Erdbeben spezialisierte Helfer aus Israel, Frankreich, Italien und den USA warten noch auf eine Anfrage aus Marokko. Das Zeitfenster, in dem die Wahrscheinlichkeit gross ist, Menschen unter Trümmern lebend zu retten, schliesst sich.
Keine technischen Geräte für die Suche nach Opfern
Die Lage in den betroffenen Gebieten Marokkos ist katastrophal, besonders in der Nähe des Epizentrums des Bebens. Hier müssen viele Bewohner bisher ohne technische Geräte nach verschütteten Verwandten und Nachbarn suchen. Die meisten der einfach gebauten Häuser in den Dörfern südwestlich von Marrakesch sind eingestürzt und haben die schlafenden Bewohner unter sich begraben.
Die offizielle Zahl von 2000 Todesopfern wird von den Rettungskräften als stark untertrieben angesehen, und es wird befürchtet, dass die tatsächliche Zahl erheblich höher liegt. Mehr als 2059 Verletzte werden in Spitälern behandelt, von denen sich 1404 in einem kritischen Zustand befinden. Die marokkanischen Behörden haben eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen.
Seit 1900 gab es im Umkreis von 500 Kilometern neun Erdbeben. Keines davon überschritt die Stärke sechs.
Die logistische Herausforderung der kommenden Wintermonate wird erheblich sein, da das Beben hauptsächlich Dörfer und ländliche Regionen am Fusse des Atlas-Gebirges getroffen hat. Berichten zufolge sind hier teilweise 90 Prozent der Häuser beschädigt. In der Provinz Al-Haouz, in der sich das Epizentrum des Erdbebens befand, wurden 1293 Todesopfer gezählt, während in dem benachbarten Taroudant 452 Menschen in schnell ausgehobenen Gräbern beerdigt wurden.
Das Epizentrum des Bebens lag unter dem Ort Ighil, einer bergigen Gemeinde mit kleinen Bauerndörfern, die auch das bei Touristen beliebte Skigebiet Oukaimeden beherbergt.
Nachbeben befürchtet
Die Angst vor weiteren Beben beherrscht die Stimmung im Land. In den Küstenstädten Casablanca, Agadir, Rabat und Essaouira eilten Bewohner in der Nacht auf die Strasse, als die Erdstösse spürbar waren. Seit dem Jahr 1900 gab es im Umkreis von 500 Kilometern neun Erdbeben, von denen aber keines die Stärke sechs überschritt.
Wegen mehrerer Nachbeben trauen sich die meisten Bewohner von Marrakesch nachts nicht mehr in ihre Häuser. Familien suchen Schutz in Parks und auf Parkplätzen. Moderne Gebäude sind oft unversehrt, doch die Intensität des Bebens hat viele ältere Häuser so geschwächt, dass selbst ein kleines Nachbeben sie zum Einsturz bringen könnte. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass in Marrakesch und den umliegenden Gebieten mehr als 300'000 Menschen dringend Hilfe benötigen werden.
König lässt sich Zeit mit Rückkehr aus den Ferien
In der historischen Medina von Marrakesch zeigt sich eine Mischung aus Solidarität und Verzweiflung. Anwohner räumen zusammen mit marokkanischen Soldaten die Trümmer des Minaretts einer Moschee und anderer zusammengefallener Gebäude von den Strassen. In der eng bebauten Altstadt suchen Überlebende verzweifelt mit ihren Händen in den Trümmern nach Verschütteten.
Die Kritik der Menschen an den wenigen und spät eingetroffenen Rettungsteams wird nur hinter vorgehaltener Hand geäussert, da viele Marokkaner Probleme mit den Sicherheitsbehörden befürchten. In den Parks von Marrakesch wird auch diskutiert, dass König Mohammed VI. erst 18 Stunden nach dem Beben von seinen Ferien in Frankreich zurückgekehrt sein soll.
Fussballer spenden Blut
Das Land erlebt eine Welle der Solidarität. Die Spieler der marokkanischen Fussballnationalmannschaft spendeten Blut für die Opfer des Erdbebens, und überall im Land haben sich Nachbarschaftsinitiativen gebildet, um Verletzte und Hilfsbedürftige zu unterstützen.
Angesichts der Dringlichkeit des Bedarfs drängen internationale Rettungsteams auf ein offizielles Hilfeersuchen seitens der marokkanischen Regierung. Algerien, das die Beziehungen zu Marokko im Jahr 2021 abgebrochen hatte, erklärte am Samstag, den Luftraum für humanitäre und medizinische Flüge geöffnet zu haben. Doch das Angebot, dringend benötigte Suchtrupps nach Marokko zu schicken, blieb aus – ebenso aus dem Wüstenstaat Mauretanien. Beide Länder streiten mit Marokko erbittert über den Status der Westsahara.
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