Erinnerungskultur in DänemarkEr starb im KZ, doch den Gedenkstein wollten sie ihm nicht geben
Die Rettung der dänischen Juden 1943 ist legendär. Weniger bekannt sind KZ-Opfer wie Axel Mogens Metz. Das Land tut sich schwer mit Geschichten wie seiner.
Jetzt liegt er tatsächlich da, der Stein des Axel Mogens Metz, messingbeschlagen, das einzig Leuchtende an diesem wolkenverhangenen Sonntagmorgen im Hjallesevej 98 in Odense. Klein ist er: zehn mal zehn Zentimeter. Hat dieser Stein tatsächlich all die Aufregung ausgelöst in dieser Stadt im dänischen Fünen?«Hier wohnte Axel Mogens Metz.» Eine Zeile so nüchtern wie auch die anderen, die auf dem Stein eingraviert sind: «Festgenommen am 2. 10. 1943 / Deportiert 1943 / Theresienstadt / umgekommen am 12. 3. 1944».
Es ist ein Stolperstein, einer jener Steine des deutschen Künstlers Gunter Demnig, mit denen heute überall in Europa an Opfer der deutschen Nationalsozialisten erinnert wird. Ein Stolperstein für den Rechtsanwalt Axel Mogens Metz, Bürger Odenses, Ehemann von Magna Metz, Vater von Steen. Gemeinsam mit der Ehefrau und dem Sohn, der damals gerade die dritte Klasse besuchte, abtransportiert aus eben dieser Strasse, aus eben diesem Haus Nummer 98. In Theresienstadt bei Zwangsarbeit verhungert mit gerade mal 40 Jahren. Allein weil er ein Jude war.
«Sie haben seine Asche in einen Karton getan und in die Elbe geworfen», hatte zwei Tage vor der Zeremonie Steen Metz bei einem Videoanruf erzählt. Der damals achtjährige Knirps hat wie die Mutter Theresienstadt überlebt, er ist heute ein Herr von 86 Jahren und lebt in Illinois in den USA. «Mein Vater hatte nie einen Grabstein», sagt er. Dafür jetzt, vor dem alten Heim, hat er diesen Gedenkstein.
Bestimmt 60 Menschen drängen sich auf dem Trottoir. Am Ende, sagt die Rednerin, habe die Stadt Odense doch «das Richtige» getan. «Was für eine Erleichterung», sagt einer der Zuhörer, Søren Freiesleben, Gemeinderat für die rotgrüne Einheitsliste. «Einige haben schon nicht mehr daran geglaubt, dass dieser Stein je verlegt wird.»
Mehr als 7000 Juden wurden gerettet
Die Dänen und die dänischen Juden – für die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung Dänemarks von 1940 an ist das eine besondere Geschichte. Sie wird gerne als Heldengeschichte erzählt, und zu einem grossen Teil zu Recht. Weil die dänische Regierung mit den Deutschen kooperierte, konnte sie sich zunächst eine innere Unabhängigkeit bewahren, so gab es lange keine Verfolgung der Juden im Land. Und dann, 1943, als die Deutschen doch heimlich die Deportation auch der dänischen Juden in der Nacht vom 1. auf 2. Oktober vorbereiteten, da verriet ein deutscher Diplomat, Georg Ferdinand von Duckwitz, die Pläne an dänische Sozialdemokraten. Und die wiederum warnten die jüdische Gemeinde. Die Juden versteckten sich und flohen mit Hilfe Tausender Dänen Richtung Küste, wo sie dann von dänischen Fischerbooten meist über den Öresund ins nahe Schweden gebracht wurden. Mehr als 7000 Juden wurden so gerettet.
«Es ist eine sehr schöne Geschichte, erhebend und romantisch», sagt Steen Metz. Es gab allerdings nicht nur die mehr als 7000 Geretteten. Es hatte auch nach Dänemark geflüchtete deutsche Juden gegeben, die die dänische Regierung zurück nach Nazi-Deutschland schickte. Und es gab die fast 500 dänischen Juden, die 1943 doch gefasst und nach Theresienstadt deportiert wurden wie Steen Metz und seine Eltern.
55 von ihnen kamen dort um, darunter Steens Vater. «Es ist sehr schwierig für jemanden wie mich, der seinen Vater im Lager verloren hat und selbst dort 18 Monate lang verbracht hat, zu sehen, wie in Dänemark fast ausschliesslich die gute Nachricht verbreitet wird und unsere Geschichte ins Vergessen geraten ist», sagt er. «Allein deshalb lasse ich keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern.»
Geholfen hat ihm diesmal Henriette Harris, eine dänische Journalistin und Mitgründerin des Vereins «Stolpersteine in Dänemark». 2019 verlegten sie einige Stolpersteine in Kopenhagen. Als Steen Metz ihre Organisation im Netz fand und sie anschrieb, ob nicht auch sein Vater einen Stolperstein bekommen könne, vor dem alten Heim der Familie in Odense, da stellte ihr Verein Ende 2019 einen Antrag bei der Stadt. «Stolpersteine sind wichtig als Denkmal für gewöhnlichen Menschen, die nie ein Grab hatten», sagt Harris. «Gleichzeitig sind sie ein Mahnmal für die heutige Gesellschaft.»
Die Antwort aus Odense im Mai 2020 dann war eine Überraschung. Nicht nur für Harris, sondern auch für den Künstler und Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig. Der zuständige Ausschuss im Gemeinderat teilte mit, man sei aufgeschlossen gegenüber der Idee, es gebe allerdings zwei Bedingungen. Erstens müssten die Bewohner der Häuser zustimmen, vor denen die Stolpersteine verlegt werden. Vor allem aber: Zukünftige Käufer dieser Häuser sollten das Recht bekommen, die Stolpersteine jederzeit wieder herausreissen lassen zu dürfen. Steine, die sich, wohlgemerkt, auf dem Trottoir vor den Häusern befinden, auf öffentlichem Grund also.
Es waren die beiden grossen Parteien im Stadtrat, die Sozialdemokraten und die Liberalen, die gegen den Widerstand der kleinen Einheitsliste auf diesen Bedingungen bestanden. Zur Begründung verwiesen sie auf empfindsame Hausbesitzerseelen, die die Anwesenheit eines solchen Steines als «unangenehm» empfinden könnten. Ein Stolperstein werde «unweigerlich die Privatsphäre auf dem täglichen Weg zur Arbeit oder zur Schule beeinträchtigen», schrieb der liberale Stadtrat Claus Houden in einem Aufsatz für die Zeitung Politiken. Im Übrigen trügen die Dänen «nicht das gleiche Joch wie die Deutschen».
«Wir können uns doch nicht nur an die netten Dinge erinnern. Wir hatten Widerstandskämpfer und Kollaborateure, beide, hier in diesem Block.»
«Er hat nichts verstanden», sagt Henriette Harris. «Oder er will nicht verstehen.» Künstler Gunter Demnig machte schnell klar, dass unter diesen Bedingungen eine Stolpersteinverlegung in Odense nicht infrage komme. Die Liberalen und Sozialdemokraten im Stadtrat blieben erst einmal stur. Bald zog die Debatte Kreise im ganzen Land, das Fernsehen berichtete und die nationalen Medien bestaunten Odense und belegten die Stadt auch mit Spott.
Jens Wellejus ist heute einer der Bewohner von Haus Nummer 98, welcher der Verlegung des Steins beiwohnt. Er erzählt von einem Ortstermin der Stadträte im letzten Jahr. «Ein Journalist fragte mich da tatsächlich, ob ein Stolperstein vor meiner Haustür nicht ‹eine zu harte Erinnerung› an die Vergangenheit wäre.» Nein, habe er geantwortet: Verglichen mit dem Schicksal der Familie Metz hielten sich die Unannehmlichkeiten durch einen Stolperstein heute doch sehr in Grenzen. Keiner der Bewohner habe sich übrigens je gegen den Stein gestellt.
Neben ihm nickt Kirsten Bach zustimmend, auch sie wohnt hier. «Was für eine Geschichtsvergessenheit», sagt sie. «Wir können uns doch nicht nur an die netten Dinge erinnern. Wir hatten Widerstandskämpfer und Kollaborateure, beide, hier in diesem Block.» Bach ist Historikerin. «Die Politiker unterschätzen das dänische Volk», sagt sie. «Wir sind stark genug, um erinnert zu werden.»
Im Juli letzten Jahres schliesslich lenkte die Gemeinde ein. Es gibt keine Bedingungen mehr. Mit Corona-Verspätung konnte der Stein endlich verlegt werden. Die Kontroverse, sagt Henriette Harris, habe auch ihr Gutes gehabt: «Ich denke, einige sind klüger geworden.» Die Aufmerksamkeit war gross, Harris’ Verein bekam Anfragen aus anderen Gemeinden, in Odense selbst gründete sich ein eigener Stolperstein-Verein. «Diese Dinge verschwinden aus dem gemeinsamen Gedächtnis», sagt dessen Vorsitzender Martin Overby. «Aber unter der Oberfläche lebt die Besatzung noch, da sind Traumata, die an die zweite und dritte Generation weitergegeben wurden. All die schrecklichen Dinge sind hier passiert, vor unseren Augen, in unserer Mitte.» Sein Verein hat an diesem Sonntag noch neun weitere Stolpersteine verlegt: Sie erinnern an ermordete Kommunisten, Widerstandskämpfer, einfache Polizisten.
Der Stein für Axel Mogens Metz aber war der erste, über den Odense nun stolpern darf. Steen Metz, der Sohn, konnte nicht kommen, er hat ein Rückenleiden. Aufgeregt sei er, sagte er vor der Verlegung, sein Englisch hat noch immer einen weichen dänischen Akzent. «Ich kann mir keinen besseren Weg vorstellen, meinen Vater zu ehren.» Dann spricht er über den wachsenden Antisemitismus, in den USA, in Europa: «Wir brauchen die Erinnerung heute mehr denn je.»
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