Leitartikel zur EM 2024Warum Fussball solch eine Kraft ausübt
Es gibt viele Gründe, sich vom Fussball abgestossen zu fühlen – aber noch sehr viel mehr Gründe, ihn zu lieben. Gerade diese Europameisterschaft liefert den Beweis dafür.
Ja, es lässt sich leicht und lange lästern über den Fussball. Über die hemmungslose Kommerzialisierung, die Raffgier von Funktionären, die den Kalender mit immer mehr Wettbewerben und Spielen überladen. Über explodierende Transfersummen und Gehälter, die mit nichts zu rechtfertigen sind, die 222 Millionen Euro Ablöse für Neymar und die 200 Millionen Dollar Gehalt für Ronaldo. Über die Geltungssucht der Infantinos dieser Welt.
Alles trifft zu, und noch mehr lässt sich beanstanden: die Gewalt, die homophoben Ausraster von Idioten auf den Tribünen, die Korruption, die die Vergabe einer Weltmeisterschaft an Katar überhaupt erst ermöglichte.
Das kann abschrecken. Und doch gibt es noch immer etwas, das stärker ist als das alles zusammen: Das ist das Spiel, dieses einfache Elf-gegen-elf, diese offene Konfrontation zweier Mannschaften, ausgetragen nach Regeln, die auf der ganzen Welt gleich sind.
Wer sagt, Fussball sei nur ein Spiel, hat recht und doch auch überhaupt nicht. Fussball ist viel mehr. Er ist das Leben. Und er bildet es ab: Liebe und Hass, Gewinn und Verlust, Triumph und Depression, Aufschwung und Untergang, Jubeln und Fluchen innerhalb von Sekunden. Er ist das Spiel der grossen Träume, ob an der Copacabana oder im Hinterhof, ob mit einem richtigen Ball oder nur mit einem Bündel aus Socken. Von Paris bis Papeete.
Der Fussball bietet so viel. Und noch viel mehr. Er ist das Spiel der Integration in einem Ausmass, wie es der Politik nie so einfach gelingt. Der Serbe spielt in der gleichen Mannschaft wie der Kosovare, der Europäer mit dem Afrikaner. Auf dem Platz werden Standesdünkel und Vorurteile überwunden, weil sie überwunden werden müssen. Sonst funktioniert das Spiel nicht. Der Fussball ist ehrlich, weil sich ein Resultat nicht fälschen lässt wie eine Bilanz. Er bietet allen eine Chance, auch Aussenseitern wie Georgien oder der Slowakei an dieser Europameisterschaft in Deutschland.
Fussball ist für alle, die ihn lieben
Solche Mannschaften bereichern den Anlass. Sie tun es dank der Herzhaftigkeit, die sie auf den Platz bringen, dank ihrer Bereitschaft, alles aus sich herauszuholen. Während sich Favoriten wie Frankreich einfach in ihrem Minimalismus ergehen. Die Ungewissheit schwebt immer über dem Spiel, weil niemand weiss, wie es ausgeht. Auch das macht den Fussball so anziehend.
Spieler schiessen Tore wie Xherdan Shaqiri, halten mirakulös Bälle wie der Türke Mert Günok, dribbeln wie der knapp 17-jährige Spanier Lamine Yamal oder sind einfach eine Reizfigur wie Cristiano Ronaldo. Solche Spieler faszinieren. Eine Mannschaft wie die Schweiz fasziniert, weil sie sich auf einmal auf einem Niveau bewegt, das nur staunen lässt. Auch dank ihr dreht der Unterhaltungsbetrieb EM auf höchsten Touren.
Die Frage wird gern gestellt: Wem gehört der Fussball? Sie ruft nach einer langen Antwort. Dabei ist sie einfach: Er gehört allen, die ihn spielen und verfolgen, er gehört Amerikanern wie Asiaten, Sponsoren wie Spielern, Fankurven wie Funktionären, Professoren wie Proleten. Er gehört allen, die ihn lieben.
Der Fussball entwickelt trotz aller Rivalitäten eine einigende Kraft, die den Fan all seine Kritik am Kommerz und an den Mächtigen vergessen lässt, zumindest während der 90 Minuten, in denen der Ball rollt. Der Fan nimmt viel auf sich, um seiner Mannschaft zu folgen. Er gibt Geld dafür aus, ein Teil des Spektakels zu sein.
Patriotismus bedeutet nicht Nationalismus
Die Wochen in Deutschland zeigen, dass der Fussball mehr ist als nur eine Kraft. Er ist eine Macht. Und er ist auch jetzt wieder so stark, dass sich ihm nicht mal jene mehr entziehen können, die unter dem Jahr einen weiten Bogen um ein Fussballstadion machen. Ein Massenphänomen breitet sich Turnier für Turnier aus, weil es für Millionen ein Spass ist, sich in ein Public Viewing zu drängen und sich beim Torjubel Bier über den Kopf zu schütten. Der Mensch funktioniert so. Er liebt offensichtlich die Enge, die Nähe, das Gemeinschaftserlebnis.
Ein solches Turnier kann ein guter Anlass sein, der Globalisierung zu trotzen und seinen Patriotismus nicht aggressiv, sondern spielerisch auszuleben. Der Fan zieht im Leibchen seines Teams los, ob das die junge Frau ist, die für Shaqiri schwärmt, oder der 70-Jährige, auf dessen Rücken «Bickel» steht. Das Leibchen sorgt für Identifikation mit dem eigenen Land, bei den Schotten auch noch der Kilt und die Bierflasche. Patriotismus bedeutet aber nicht gleich Nationalismus.
Österreichs Spieler Michael Gregoritsch hat diese Woche von wunderbaren Fussballfesten in seiner Heimat berichtet. Und das nimmt er als Botschaft gleich an ganz Europa mit: «Man soll sich nicht mit rechten Gedanken auseinandersetzen, man soll sich zusammenreissen und sehen: Wie im Fussball kann man vereint und glücklich sein.» Wenn er nur recht bekommen würde.
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