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Islamistischer Terror in der Schweiz
Elfmal ging er am Kebabladen vorbei, dann stach er zu

An einer Messe in Lausanne am 17. September 2020 betrauern Angehörige und Freunde das Opfer der Messerattacke von Morges.

Lange blieb die Schweiz vom islamistischen Terror verschont – bis am 12. September 2020 Ömer A. in einem Kebabimbiss in Morges VD einem Gast von hinten eine 20 Zentimeter lange Stahlklinge in den Rücken rammte. «Das Opfer, das an einem Tisch der gedeckten Terrasse sass, erlag am Tatort den Verletzungen», heisst es in der am Montag veröffentlichten Anklageschrift. Das Messer noch in der Hand, habe der Täter «Allahu akbar» geschrien, ehe er die Flucht ergriff. 

Auf 15 Seiten dokumentiert die Bundesanwaltschaft (BA) eine Radikalisierung, die unter den wachsamen Augen der Behörden stattfand. Und die trotzdem niemand stoppte. 

Operation «Tränen des Bluts»

Ömer A., türkischstämmiger Bürger des Lausanner Vororts Prilly und im Gefängnis kürzlich 29 Jahre alt geworden, war seit Jahren auf dem amtlichen Radar. Die Sicherheitsbehörden führten ihn seit 2017 auf ihrer Gefährderliste, denn A. war radikalisiert und psychisch instabil. Er verkehrte in der lokalen Drogen- und der regionalen Islamistenszene. Und er verbreitete gemäss Anklage IS-Propaganda, mündlich sowie über die Verschlüsselungs-App Telegramm. 

In Kontakt stand er unter anderem mit «Emir» Milutin J., auch er ein junger Radikaler aus der Waadt, der in Frankreich wegen Attentatsplänen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ihn bezeichnete Ömer A. als das «Gehirn der Gruppe» von Islamisten. Mit ihm tauschte er sich über Attacken in Europa aus. Die Operation nannten sie «Tränen des Bluts». Die BA zeichnet minutiös nach, wie Ömer A. ab dem Frühling 2019 ernst machen will.

Polizist löscht das Feuerchen

Am 11. April 2019 bricht A. nach Syrien auf. Doch bereits in Mailand macht er kehrt. Erst wenige Stunden zurück, versucht er bei sich in Prilly, eine Tankstelle in die Luft zu jagen. An einer Zapfsäule hantiert er mit einer brennbaren Flüssigkeit und einem Lappen. Er verteilt Diesel und Benzin. Zustande bringt er aber nur kleine Feuer, von denen ein Polizist das letzte mit seinem Schuh auslöschen kann. 

Ömer A. wird festgenommen. 15 Monate später kommt er frei. Die Behörden wollen ihn aber weiter im Auge behalten. Das Zwangsmassnahmengericht Bern ordnet dafür Massnahmen an, die in der Anklageschrift eine ganze Seite füllen. 

Hotel statt Psychiatrie

Die Liste reicht vom Passentzug und der Meldepflicht bei der Polizei, über das Verbot, seinen Kanton zu verlassen, bis zu einem Hausarrest von 21 Uhr bis 5.30 Uhr. Besuche sind während dieser Zeit keine erlaubt. Die Waadtländer Behörden quartieren A. in einem Hotel ein, weil sie gemäss eigenen Angaben keinen Platz in einer psychiatrischen Einrichtung fanden.

A. muss an einem Berufsprogramm in einer Stiftung zur Wiedereingliederung teilnehmen und sich mit Fachleuten treffen, die Erfahrung haben mit Psychologie und Radikalismus. Explizit genannt wird im Massnahmenkatalog auch «das Verbot, eine Waffe zu beschaffen, zu tragen oder zu benutzen». 

Die Strafverfolgungsbehörden sind heute überzeugt, dass es sich um ein Zufallsopfer handelt.

Zwei Monate lang scheint sich A. daran zu halten. Dann, am Mittag des 12. September 2020, kauft er sich in Morges in einem Einkaufszentrum ein Küchenmesser. Gemäss BA beginnt er, ein Opfer zu suchen, und geht zwischen 14.53 Uhr und 19.49 Uhr elfmal am Kebabimbiss in der Nähe des Bahnhofs vorbei. Dazwischen, um 18.30 Uhr, betet er im Hof eines Wohnhauses.

Um 21.10 Uhr betritt A. den Tatort mit dem zuvor gekauften Messer und tötet einen 29-jährigen Portugiesen, der mit Freunden dort ist. Die Strafverfolgungsbehörden sind heute überzeugt, dass es sich um ein Zufallsopfer handelt – und um das erste Todesopfer des islamistischen Terrorismus in der Schweiz. 

Auftakt zu einer Serie?

Am Tag darauf wird Ömer A. verhaftet. Gemäss früheren Recherchen sagt er bei der Befragung, er habe den Propheten rächen wollen. Ähnlich steht es auch in seinem Testament, dass die Polizei in seinem vom Staat bezahlten Hotelzimmer findet.

Wenig später folgen ähnliche Taten mit Messern durch islamistische Täter wie die Ermordung eines Lehrers in Paris und der Angriff in einer Kathedrale in Nizza.  Zwei Wochen vor der Attacke in Morges hatte die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» ihre Mohammed-Karikaturen erneut abgedruckt – kurz vor dem Prozess gegen die Hintermänner des Angriffs auf seine Redaktion, bei dem 2015 zwölf Menschen getötet wurden. Die Täter hatten damals «Allahu akbar» geschrien und «wir haben den Propheten gerächt».

Im vorzeitigen Strafvollzug

Ömer A. kommt am 12. Dezember vor das Bundesstrafgericht. Die Hauptverhandlung ist auf fünf Tage angesetzt. Die Anklage lautet auf Mord, versuchte vorsätzliche Tötung, einfache Körperverletzung, Verstoss gegen das IS-Verbot, Gewaltdarstellung, Brandstiftung, Verursachung einer Explosion, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz. 

Ein Teil der Vorwürfe betrifft die Haftzeit, denn der Beschuldigte soll auch einen Wärter des Regionalgefängnisses Thun mit einem Kugelschreiber angegriffen und zu töten versucht haben. Zudem habe er einen Bundespolizisten nach einem Verhör mit einem Faustschlag verletzt.

Die Anwältin des Beschuldigten will sich vor dem Prozess nicht zu den Vorwürfen äussern. Sie bestätigt einzig, dass ihr Mandant sich im vorzeitigen Strafvollzug befindet. Das Opfer hinterliess eine portugiesische Partnerin. Diese Frau, die Eltern und ein Bruder des Verstorbenen, alle wohnhaft in Portugal, nehmen als Privatkläger am Strafverfahren teil.