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Booker-Preis-Gewinnerin
Eleanor Cattons neuer Roman «Der Wald» ist auf der Höhe der Zeit

epa03911813 New Zealand novelist Eleanor Catton poses as winner of the 2013 Man Booker Prize after the announcement held at Guildhall, London, Britain, 15 October 2013. The Man Booker Prize is Britain's most coveted literary recognition and is awarded each year for the best original full-length novel, written in the English language, by a citizen of the Commonwealth of Nations or Ireland. EPA/TAL COHEN
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Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, muss es in einem späteren Akt losgehen: Jeder Dramaturg kennt diesen Satz von Anton Tschechow über notwendige Elemente im Kunstwerk. In einem dicken Roman darf es auch Überflüssiges geben. Aber dass ein Kleinkalibergewehr, das ein neuseeländischer Unternehmer namens Owen Darvish in einem Glaskasten aufbewahrt, als Erinnerung an seine jugendlichen Anfänge als Kaninchenbekämpfer, auf Seite 15 nebenbei erwähnt wird – aber auf Seite 503 von seiner Frau aus ebendiesem Glaskasten geholt wird und eine eminent wichtige Rolle im Finale des Romans spielt: Das zeigt, wie genau konstruiert der dritte Roman von Eleanor Catton ist.

Mit ihrem zweiten, «Die Gestirne», 1000 Seiten stark, hatte sie den Booker-Preis gewonnen, erst 28 Jahre alt, als jüngste Preisträgerin überhaupt. Das war eine Erzählmaschinerie, die im Neuseeland des 19. Jahrhunderts spielte, viktorianische Behäbigkeit vortäuschte, mit der Präzision eines Planetariums ablief und trotzdem alle paar Seiten mit Überraschungen aufwartete.

Thriller mit moralischem Unterbau

Das neue Buch «Der Wald» ist ebenfalls stark plotgesteuert. Es ist ein Thriller mit moralischem Unterbau: Guerilla-Gärtner, die die Welt retten wollen, gegen einen skrupellosen Milliardär, der sein Geld mit Überwachungsdrohnen gemacht hat und es mit illegalem Abbau von seltenen Erden vervielfachen will. So die vordergründige Konfliktlage. Also Gut gegen Böse. Aber was ist gut in einer Welt, in der alles Handeln in heillosen Zusammenhängen verstrickt ist, die besten Absichten manchmal gegenteilige Folgen zeitigen?

Eleanor Catton hat grosse Freude daran, und sie beweist grosses Geschick darin, die Widersprüche aufzublättern, die sich in der Gruppe der Guerilla-Gärtner entfalten, als sie vom Milliardär geködert werden sollen. Die Gruppe nennt sich Birnam Wood (ein Shakespeare-Zitat, dazu später), gegründet und angeführt von Mira Bunting, einer Idealistin, die nicht bloss brachliegende Flächen zum Blühen und Gedeihen bringen will, sondern eine «radikale, umfassende und dauerhafte gesellschaftliche Veränderung» anstrebt.

Das Angebot des amerikanischen Milliardärs Robert Lemoine, ein grosses Grundstück nahe dem Korowai-Nationalpark zu bepflanzen, das er von Owen Darvish gekauft hat (der mit dem Kaninchentöter), und sie mit 100’000 Dollar zu finanzieren, stürzt die Gruppe in ein Dilemma. Man könnte endlich aus den Schulden raus, wachsen, eine richtige NGO werden, finden die einen. Man werde korrumpiert, so die anderen.

Eleanor Catton: Der Wald. Roman. Aus dem Englischen von Meredith Barth und Melanie Walz. BTB, München 2024. 510 S., ca. 36 Fr.

Vor allem Tony Gallo, Miras Ex, ist gegen jeden Kompromiss mit dem «Markt». In einer wunderbar ausgeführten Szene liest er der Gruppe aus einer Position puristischen Marxismus die Leviten und bringt sie damit gleich doppelt gegen sich auf: zum einen, weil sein Radikalismus in Unsinn umschlägt – «Intersektionalität, Neoliberalismus, wo ist der Unterschied» – , zum andern hat er nicht gemerkt, dass derlei Dozieren heute wie Mansplaining wirkt; und das geht gar nicht.

Die Gruppe nimmt Lemoines Angebot an, beginnt, die Farm zu bepflanzen, und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Denn Eleanor Cattons Roman ist eine Tragödie, nicht nur der Titel und das Motto verweisen auf Shakespeares «Macbeth»; auf die Hybris Macbeths, die Zukunft zu beherrschen, indem er herbeiführt, was ihm prophezeit wurde, bis der Wald, der fest verwurzelt steht, ihm entgegengeht.

Fassaden und falsche Identitäten treiben die Handlung des Romans voran. Lemoine hat sich den Darvishs, den Besitzern der Farm, als «Prepper» präsentiert, der auf ihrem Grund und Boden einen Luxusbunker bauen will, um dem Weltuntergang zu entgehen – nichts ist glaubhafter als ein Klischee, weiss er. Birnam Wood dient ihm als weitere Tarnung: Er braucht ein finanzielles Engagement in einer wohltätigen Organisation, um sich in Neuseeland niederlassen zu dürfen.

Handys, Drohnen, Tracker

Mira, die vermeintliche Weltretterin, verkennt, dass sie durch die Milliardärs-Aura Lemoines und eigene Grössenfantasien verführbar ist. Tony Gallo wiederum träumt von einer Karriere als investigativer Journalist. In Lemoine meint er sein ideales Objekt gefunden zu haben: den kapitalistischen Teufel in Menschengestalt. Tatsächlich stösst er, ohne es ganz zu verstehen, auf die massive Naturzerstörung, die Lemoines geheimer Abbau der seltenen Erden im Korowai-Gebiet angerichtet hat.

Verschwörungstheoretiker Tony glaubt allerdings, dass die Regierung Neuseelands dahintersteckt. Mehr als um Aufklärung geht es ihm, das wird durch Eleanor Cattons geschickte stilistische Einfühlung deutlich, um den künftigen Ruhm als Starjournalist: «Er war die Story.» Von Lemoines Söldnern gejagt, bei der Flucht verletzt, schreibt er versteckt im Wald den ersten Satz in sein Notizbuch: «‹Ich hörte die Drohnen, bevor ich sie sah.› Er hielt das Notizbuch wie ein Gesangbuch in die Höhe und sprach die Worte leise aus.»

So bestimmen Täuschung und Selbsttäuschung das Verhältnis der Personen untereinander und zu sich selbst. Vermittelt wird es zusehends durch Geräte. In kaum einem zeitgenössischen Roman wird so viel mittels Handys und Drohnen überwacht, kommuniziert und manipuliert. Mastermind ist natürlich Lemoine, der sich in jedes Mobiltelefon hineinhacken, fremde Identitäten annehmen, Verläufe vor- und zurückverlegen, produzieren und löschen kann. Freundinnen, Ehepartner tracken einander, Nachrichten werden bewusst vieldeutig verfasst, Missverständnisse sind notorisch. Was es nicht mehr zu geben scheint, ist so etwas Einfaches wie Vertrauen. Sind Beziehungen, die nicht auf Vorteil, auf Ausnutzen beruhen.

Ein fürchterliches Finale

Und doch: Trotz des shakespearischen Finales, trotz des «existenziellen Dachs», das die Klimakatastrophe über diesem wie über jedem ernsthaften Roman dieser Tage bildet und die Handlungssinnhaftigkeit seiner Personen infrage stellt, ist dies kein deprimierendes Buch. Schon weil man unentwegt die Kunstfertigkeit bewundern muss, mit der die Autorin das Uhrwerk des Plots konstruiert hat. Die Eleganz, mit der sie sich in das Innenleben der Personen hineinschreibt – und uns mit jedem Perspektivwechsel (zu dem manchmal auch ein Stilwechsel gehört) klarmacht, wie falsch wir eben noch gelegen haben. Und die Komik, die sie aus dem Geflecht der Interessen, aber auch der Selbsttäuschung herausholt.

Und schliesslich, wenn Jill Darvish auf Seite 503 den Kaninchentöter aus dem Glaskasten nimmt, dann geht man voller Bewunderung und Schrecken einem der virtuosesten und zugleich fürchterlichsten Finale entgegen, die einem die neuere Spannungsliteratur zu bieten hat.