Allein an den FesttagenEinsamkeit – warum sie wichtig ist und wie man sie besser aushält
Immer mehr Menschen fühlen sich einsam. Was die Forschung über die Ursachen weiss, warum sich niemand deshalb schämen soll und wo man Hilfe bekommt.
«Wenn der Schnee fällt und die weissen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel bleibt am Leben», so lautet ein viel zitierter Satz über die Familie Stark aus George RR Martins Erfolgsserie «The Game of Thrones». Wie die Wölfe sind wir Menschen soziale Wesen, und die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit begleitet so manchen besonders an den Feiertagen. Das Thema Einsamkeit ist in den letzten Jahren, auch wegen der Pandemie, wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit und der Forschung gerückt.
Rund 14 Prozent der Menschen in der Schweiz fühlen sich laut der letzten Gesundheitsbefragung «ziemlich häufig oder sehr häufig einsam». Einsamkeit ist nicht nur unangenehm, sie wirkt sich, wenn sie über längere Zeit anhält, negativ auf die Gesundheit aus. Was also sagt die Forschung, und wie kann man dieser Emotion am besten begegnen?
«Einsamkeit ist schmerzhaft, aber sie ist ein wichtiges Gefühl», sagt Tobias Krieger, Forschungsgruppenleiter am Psychologischen Institut der Universität Bern, der sich mit dem Thema beschäftigt. Einsamkeit sei eine Art sozialer Durst und signalisiere einem, dass man Kontakt zu Mitmenschen suchen sollte.
Für Einsamkeitsgefühle sollte sich niemand schämen
Was einfach klingt, ist es nicht immer. Viele Menschen fühlen sich diesem Zustand hilflos ausgeliefert. Zudem ist Einsamkeit noch immer stigmatisiert. Betroffene schämen sich oder meinen, sie allein wären an ihrer Situation schuld. «Niemand sollte sich wegen seiner Einsamkeit schuldig fühlen oder sich schämen, und wir sollten uns mehr über dieses Thema unterhalten», sagt Krieger.
Ursachen gibt es viele. Introvertierte Menschen haben ein etwas höheres Risiko. Die beste Vorbeugung sind regelmässige soziale Kontakte, das fällt Extravertierten meist leichter. Doch auch wenige, dafür gute Freunde schützen vor Einsamkeit. Eine Rolle spielen zudem frühere Beziehungserfahrungen. Mobbing, plötzliche Trennungen oder Todesfälle können das Risiko erhöhen, ebenso soziale Probleme wie Langzeitarbeitslosigkeit oder eine gesundheitliche Beeinträchtigung.
Das Alleinsein hat auch positive Seiten
Eine Übersichtsstudie versuchte der Frage nach den Ursachen vor einigen Monaten weiter auf den Grund zu gehen. Zwar würden alle zuvor genannten Faktoren eine Rolle spielen, kamen die Autoren zum Schluss, doch entscheidend ist vor allem eines: wie viele soziale Beziehungen jemand hat und welche Qualität diese Beziehungen haben.
Einsamkeit ist keine Diagnose. Einsamkeit entsteht, wenn sich eine Kluft auftut zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen Beziehungen. Nicht jeder fühlt sich gleich schnell einsam, und das Bedürfnis nach sozialen Kontakten kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. «Alleinsein kann auch etwas sehr Positives sein, wenn es selbst gewählt ist», sagt Krieger. Sich konzentrieren, nachdenken, geistig arbeiten gelinge oftmals sehr gut oder teilweise besser, wenn man keine Gesellschaft habe.
«Wichtig ist es auch, zwischen chronischer Einsamkeit und einem zeitweise auftretenden Gefühl zu unterscheiden», sagt Krieger. Zwar gebe es keine klare zeitliche Definition, ab wann Einsamkeit als chronisch gilt. Doch Betroffene können in einen Teufelskreis geraten. Wer soziale Zurückweisung oder soziale Isolation empfindet, der sehnt sich einerseits stärker nach Kontakten, versucht sich aber andererseits vor weiteren Enttäuschungen zu schützen. So lässt man sich beispielsweise weniger auf soziale Beziehungen ein oder tritt gehemmter auf, was zu erneuten, zumindest subjektiv empfundenen, Zurückweisungen führt.
Einsamkeit kann die Wahrnehmung verzerren. Chronisch einsame Menschen neigen dazu, ambivalente soziale Situationen eher negativ zu interpretieren, und sind oftmals ihren Mitmenschen und sich selbst gegenüber kritischer. So fand ein Team von Forschenden der University of California in einer Studie heraus, dass einsame Menschen die Welt tatsächlich anders wahrnehmen. Während Testpersonen Videos schauten, zeichneten die Forschenden die Aktivität in ihrem Gehirn auf. Die Nicht-Einsamen reagierten alle ähnlich auf die Bilder. Die Einsamen jedoch unterschieden sich in ihrer Reaktion nicht nur von den Nicht-Einsamen, sondern sogar untereinander.
Fiktive Figuren gelten als reale Freunde
Dass Menschen, die sich häufig allein fühlen, veränderte Hirnstrukturen haben können, haben bereits andere Studien nachgewiesen. Einsame junge Menschen haben weniger weisse Substanz in jenen Regionen ihres Gehirns, die für soziale Wahrnehmung und Empathie zuständig sind.
In einer anderen US-Studie fiel auf, dass einsame Menschen anders auf Figuren in TV-Serien reagieren. Während sich viele Menschen von fiktionalen Charakteren beeindrucken oder beeinflussen liessen, schreiben die Forscher, würden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität bei jenen, die sich einsam fühlen, verschwimmen. Das liess sich in ihrem präfrontalen Kortex nachweisen. So registrierte ihr Gehirn beispielsweise die fiktive Figur des Jon Snow aus «Game of Thrones», der in der Geschichte selbst mit Einsamkeitsgefühlen kämpft, eher wie einen Freund im echten Leben.
Im Körper löst überdauernde Einsamkeit eine chronische Stressreaktion aus. Die körperlichen Reaktionen ähneln jenen, die auftreten, wenn man beispielsweise seine Leistungsgrenzen über zu lange Zeit überschreitet. Wenn die Stresshormone über längere Zeit erhöht sind, führt das zu chronischen niederschwelligen Entzündungsreaktionen. Das wiederum erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Bluthochdruck und schwächt das Immunsystem. Einsame leiden auch häufiger an Schlafstörungen und haben ein höheres Risiko, eine Depression zu entwickeln. Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Depression und Einsamkeit. Das eine kann zum anderen führen und umgekehrt.
Einsamkeit ist nicht nur ein Problem alter Menschen. In der letzten Gesundheitsbefragung gaben vor allem Junge zwischen 15 und 24 Jahren an, unter diesem Gefühl zu leiden. Und einsam kann man sich auch fühlen, wenn man inmitten einer Gruppe sitzt.
«Wenn sich jemand in einer Beziehung, einer Freundschaft oder sozialen Gruppe einsam fühlt, geht es um die Qualität dieser sozialen Kontakte», sagt Krieger. Dann gehe es beispielsweise um die Frage, ob man sich mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen oder angenommen fühle. Einsamkeitsgefühle können also auch als eine Art Barometer für die Qualität sozialer Beziehungen dienen.
Viel mehr Menschen leben heute allein. Die Ursachen für die zunehmenden Einsamkeitsgefühle sucht man deshalb auch in gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Individualisierung. «Das sollte man nicht nur negativ sehen», sagt Krieger. Die Individualisierung habe auch zu mehr Freiheiten geführt. Wer sich beispielsweise mit seiner Familie nicht gut verstehe, der könne es auch als eine Erleichterung empfinden, wenn man die Kontakte freier selbst gestalten könne – auch an den Festtagen.
Was aber können Menschen tun, die sich manchmal oder sogar häufig einsam fühlen? «Wenn sich Gelegenheiten zum Kontakt bieten, sollte man versuchen, diese zu nutzen», sagt Krieger. Und dabei im Hinterkopf behalten, dass einen das Gegenüber oftmals viel weniger kritisch einschätzt als man selbst.
Es gibt auch über die Feiertage verschiedene Angebote, um mit anderen in Kontakt zu treten. «Es kann sich lohnen, wenn man versucht, sich zu überwinden», sagt Krieger. Selbst wenn es viel Mut brauche, Neues auszuprobieren und sich vielleicht auch verletzlich zu zeigen.
Auch die sozialen Medien müsse man nicht nur verteufeln. Oftmals macht den Unterschied aber, ob man sie nur passiv oder auch aktiv nutzt. «Wer nur mitliest, was andere so unternehmen, der verstärkt die Einsamkeitsgefühle», sagt Krieger. Dabei könnte man die Plattformen auch aktiv nutzen, um beispielsweise mit Bekannten in Kontakt zu treten, von denen man länger nichts mehr gehört hat, oder um neue Kontakte zu knüpfen.
Eine noch grössere Herausforderung ist die Einsamkeit für ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr so mobil sind und deren Beziehungsnetz sich stark verkleinert hat. Hier rät der Experte in einem ersten Schritt beispielsweise zu telefonischen Kontakten (siehe Box). Und wer das Gefühl habe, dass die Einsamkeit einen zu stark überfordere oder man schon lange darunter leide, der solle sich am besten an eine Fachperson wenden.
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