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Meinung

Analyse zu einem ikonischen Bild
Eine Umarmung als letzter Trost

Der Arzt sagte über die Umarmung mit dem Patienten: «Ich war traurig, und er war traurig.»
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Houston, Texas, der 26. November. Es ist Thanksgiving, der wichtigste Feiertag in Amerika. Ein alter Mann weint.

Der Mann ist Covid-Patient im United Memorial Medical Center, einem städtischen Krankenhaus. Er befindet sich auf der Intensivstation. Anwesend ist auch der Fotograf Go Nakamura. Er besucht das Spital regelmässig, will mit Fotos die Pandemie dokumentieren. Nakamura steht an diesem Tag in einer Ecke des Raums und beobachtet den alten Patienten, so wird er es später der «Washington Post» sagen. Er nimmt die Kamera hervor und fotografiert.

Der alte Mann steht von seinem Krankenbett auf, ist hilflos. Er sagt: «Ich möchte mit meiner Frau zusammensein.»

Dann kommt der Arzt Joseph Varon ins Zimmer, mit Schutzkleidung, Visier, Schutzmaske ausgerüstet. Varon legt dem Patienten die Hände auf die Schultern. Der alte Mann senkt den Kopf, schmiegt sich an den Körper des Arztes. Die Männer umarmen sich.

Das Bild transportiert Intimität

Der Fotograf Go Nakamura macht viele Bilder, will den Moment einfangen, der die Einsamkeit des Patienten und das Mitgefühl des Arztes zeigt. Nakamura stellt das Foto der Umarmung auf Facebook und schreibt: «Ich bin dankbar, Zeuge eines solch wundervollen Moments zu sein.» Das Foto wird hundertfach geteilt, verbreitet sich in den sozialen Medien.

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Was ist am Bild besonders?

Es sagt viel über die Corona-Pandemie und uns Menschen aus. Es zeigt, wie sich das Leben verändert hat für jene, die betroffen sind. Es zeigt, wie viel Kraft das Virus kostet – die Pflegenden und die Kranken. Es zeigt ein Bedürfnis, das stärker geworden ist: Menschen wollen Trost finden. Und Menschen wollen trösten.

Menschliche Nähe ist wegen der möglichen Ansteckung mit dem Virus gefährlich geworden. Wir sollen im öffentlichen Raum Abstand halten. Nur Familienmitglieder dürfen sich berühren. Leute, die Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer teilen.

Das Bild der Umarmung transportiert eine Intimität, die viele für unmöglich hielten: Zwei fremde Menschen berühren sich.

Der eine Mann ist alt, gebrechlich, krank. Der andere, Joseph Varon, ist eine medizinische Autorität. In diesem Moment entscheidet er, dass menschliche Nähe wichtiger ist als professionelle Distanz. Er sagt dem TV-Sender CNN: «Ich war traurig, und er war traurig.»

Aussenstehende sehen in das Innere eines Krankenhauses

Joseph Varon hatte 250 Tage hintereinander gearbeitet. Im Bundesstaat Texas wurden in der vergangenen Woche 20’000 neue Infektionen pro Tag gemeldet. Bisher sind in Texas 22’000 Menschen an oder mit Covid gestorben.

Das Bild des Arztes Joseph Varon mit dem alten Mann zeigt auch, was im Innern eines Spitals geschieht. Das Foto stellt Nähe zwischen den Gesunden draussen und den Erkrankten drinnen her: Auf einmal können Aussenstehende nach innen sehen, sehen Ohnmacht, Leid, Isolation. Wir erkennen die Hilflosigkeit des alten Mannes mit einem Blick, in jener Geste. Der Arzt und der Patient wollten sich diesem Gefühl hingeben – mit einer Umarmung.

Die amerikanische Autorin Susan Sontag hat die Menschen in einer Kurzgeschichte mit folgendem Satz beschrieben: «Wir versuchen uns immer vorzubereiten, wie man anderen ohne Angst und Schwäche gegenübertritt.»

Die Corona-Pandemie macht unsere Angst und Schwäche für andere sichtbar. Krankheit und Tod erschweren es den Menschen, diese Empfindungen zu verbergen. Es gibt Momente, da sind Menschen bloss noch Angst und Schwäche, da sind sie schutzlos. Auf Trost angewiesen. Wie der alte Mann. Wie der Arzt. Wie wir alle.