Abend der Tories in London«Eine Lektion in Folter»: Kampf um Johnson-Nachfolge endet in Wembley
Liz Truss und ihr parteiinterner Rivale Rishi Sunak haben in London noch einmal Propaganda in eigener Sache gemacht. Am Montag wird bekannt, wer in die Downing Street einziehen wird.
Das Finale steigt, wie es sich für einen grossen Anlass gehört, in Wembley.
Zwar traten Liz Truss und Rishi Sunak nicht im sagenumwobenen Fussballstadion gegeneinander an, mit Zehntausenden johlenden Parteimitgliedern auf den Tribünen. Aber auch in der Veranstaltungshalle Wembley Arena gleich nebenan war die Stimmung angespannt, als sich die beiden Bewerber um die Nachfolge des britischen Premierministers Boris Johnson am Mittwochabend zum letzten Mal den Mitgliedern der Konservativen Partei stellten.
Der letzte Eindruck zählt, die Stimmabgabe endet am Freitag. Am Montag soll dann bekanntgegeben werden, wer in die Downing Street einzieht. Endlich, sagen viele Menschen in Grossbritannien.
«Die britische Politik war im vergangenen Monat eine Lektion in Folter», kommentierte der Kolumnist Simon Jenkins in der Zeitung «Guardian». «Der Wahlkampf hat beide Kandidaten so beschädigt, dass Tory-Mitglieder – und die Bevölkerung im Allgemeinen – offenbar selbst einen diskreditierten Boris Johnson als Premier bevorzugen würden.» Von einem Bürgerkrieg innerhalb der Konservativen Partei war vorübergehend die Rede. Zu Beginn des Duells herrschte eine solche Schärfe, dass einige Beobachter schon glaubten, die Tories könnten sich fürs Erste keinesfalls mehr zusammenraufen.
Truss in Pole Position
Das hat sich wieder geändert. Doch der Dauer-Wahlkampf, der mit Johnsons Rückzugsankündigung am 7. Juli begonnen hatte, lähmt das Land zu einem Zeitpunkt, an dem es dringend Führung benötigt. Die Inflation über 10 Prozent und steigend, die Energiepreise vermutlich bald vervierfacht, der Brexit noch längst nicht überwunden, dazu der russische Krieg gegen die Ukraine. Das sind nur die absoluten Top-Themen, mit denen sich die neue Premierministerin oder der neue Premierminister von Tag eins an beschäftigen muss.
Hinzu kommen interne Sorgen. Die grösste Herausforderung für die Neue oder den Neuen in der Downing Street heisse Boris Johnson, meint der Politologe Matthew Flinders von der Universität Sheffield. Denn der scheidende Premierminister sieht sich zu Unrecht aus dem Amt gejagt. Johnson werde nicht schweigend von der Bühne verschwinden, sagt Flinders im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Dass die Neue Liz Truss heissen wird, glauben die meisten, die das Rennen verfolgen. Wiederholt lag die 47-Jährige in Umfragen so deutlich vor Sunak, dass dessen Sieg mittlerweile einer Sensation gleich käme. Woran sich der 42-Jährige noch klammern kann, ist, dass Meinungsforscher oft betonen, wie schwer es ist, die Stimmung in der Konservativen Partei zu ermitteln. Denn die Tories stellen der Öffentlichkeit keine Unterlagen zu ihren Mitgliedern zu Verfügung.
Eine sehr hohe Latte
Es ist nicht einmal bekannt, wie viele Menschen genau an der Abstimmung teilnehmen dürfen. Schätzungen gehen von bis zu 200’000 Parteimitgliedern aus, die über den nächsten Premier entscheiden. Das sind rund 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung – vornehmlich weiss, männlich, über 60 und aus dem wohlhabenderen Südengland. Diese Gruppe scheint Truss überzeugt zu haben. Einen «Hochsprung» nennt Experte Flinders diesen Teil des Wettkampfs: «Sie muss über eine sehr hohe Latte springen, um die Wahl zur Parteichefin zu gewinnen.»
Doch schwierig sei vor allem der folgende «Weitsprung», bei der die Aussenministerin eine weit grössere Gruppe von sich überzeugen müsse, sagt der Politologe. Das könnte deutlich schwieriger werden, denn der bisher von Truss gefahrene rechtskonservative Kurs dürfte in vielen Gebieten Englands und erst recht in den traditionell Tory-kritischen Landesteilen Schottland und Wales nicht ankommen. Nötig ist auch frischer Wind beim Personal. «Sie wird von Johnson eines der leichtgewichtigsten, unerfahrensten Kabinette der jüngeren Geschichte erben», betont Kolumnist Jenkins. Johnson habe seine Minister stets wie einen zusammengeschusterten Fanclub behandelt.
Zudem gilt Truss bisher als eher ungelenk bei öffentlichen Auftritten. Der Unterschied zum Populisten Johnson, der mit seiner jovialen Art in Pubs und auf Cricketplätzen gut ankommt, ist immens. «Sie muss zeigen, dass sie tanzen kann», sagt Flinders. Also: Ob sie mit den Leuten auf der Strasse klar komme. Etwas Zeit hat sie noch: Die nächste Parlamentswahl muss spätestens im Januar 2025 stattfinden. Nach der skandalerschütterten Ära Johnson liegen die Tories allerdings in Umfragen hinter der Labour-Partei.
SDA/fal
Fehler gefunden?Jetzt melden.