Neues Buch von Arno Camenisch Eine Katastrophe, die sprachlos macht
Mit «Der Schatten über dem Dorf» schreibt der Schriftsteller seine Tavanasa-Saga fort – und zeigt, wie grosse Literatur auf kleinstem Raum entsteht.

Lindgrün leuchteten die «Goldenen Jahre», firnweiss glitzerte «Der letzte Schnee» auf dem Buchumschlag. Der neue Kurzroman von Arno Camenisch trägt grau. Grau wie ein Schatten, der über dem Dorf liegt, in dem alle Geschichten des Bündner Autors spielen, und er gibt dem neuen, dem zwölften Band seiner Tavanasa-Saga den Titel.
Doppelsinnig ist der Schatten: Er meint das Halbdunkel, in dem der Ort drei Monate im Winter liegt, wenn es die Sonne nicht ins Tal schafft. Und er meint ein Unglück, das sich anderthalb Jahre vor der Geburt des Erzählers ereignete und über das das Dorf nie richtig hinweggekommen ist. Damals haben drei Kinder mit geklautem Benzin ein Feuerchen veranstalten wollen, in einer Hütte oben am Wald, und sind elendiglich verbrannt.
Die Gedanken gehen spazieren
Das ist der Schatten, über den niemand spricht, weil es keine Worte dafür gibt, und diesen Schatten kann keine Sonne verjagen. Es gibt nur das Weitermachen, weil man ja keine Wahl hat. So wie der Grossvater, als sein Holzunternehmen «im Siebenundsiebzig» zusammenkrachte, halt allein weitermachte, Rechen herstellte oder mal einen Stuhl. Stoizismus des Handwerkers.
In den vorangehenden Bänden beschwor Arno Camenisch das, was es mal gab – die Beiz, den Kiosk, den Skilift – und unter die Räder der Moderne, also von Effizienz und Rentabilität, gekommen ist. Er liess liebenswerte Käuze miteinander sprechen, immergleiche Satzbausteine aneinanderreihen, sich gegenseitig vergewissern, dass man wenigstens selbst noch da war.
Jetzt geht es um das Gegenteil. Um etwas, das nicht verschwinden will, nicht vergessen werden kann. Ein Trauma, nicht benannt und nicht zu bewältigen. Der Erzähler, wie der Autor physisch dem Dorf längst entwachsen, ist fasziniert von dieser alten Geschichte. Er kehrt noch einmal zurück, geht die alten Wege, betrachtet die Häuser, erinnert an ihre Bewohner. Auch seine Gedanken gehen spazieren, machen Um- und Irrwege, landen aber immer wieder an jener Stelle am Waldrand, wo sich das Unglück ereignete.
Was nimmt der Tod einem Kind an Leben weg?
Das Unglück ist das schwarze Loch, das diese Prosa anzieht, in einen engen Kreis an seinem Rand. Camenisch lässt auch einzelne Passagen, ja Sätze in sich kreisen, sodass der Vordersatz im Nachsatz wiederkehrt. Das ist das eine Stilmerkmal dieses Buches. Das andere ist die sprachliche Nachbildung einer Unvereinbarkeit: Das Leben geht weiter, dabei ist es durch den Tod der Kinder in den Grundfesten erschüttert. Hier das Immerwieder, dort das Einmalige. Die Menschen nehmen ihre Tätigkeiten auf, wie immer, aber es ist nicht mehr dasselbe. Auf ihnen liegt nun ein Schatten.
Am nächsten kommt der Erzähler dem, was das Unglück mit dem Dorf gemacht hat, in einem Moment der Imagination. Er stellt sich vor, was der Tod einem Kind an Leben wegnimmt – eine eben bloss potenzielle Biografie im Konjunktiv. Wie grosse Literatur auf kleinstem Raum entsteht, wie man mit der Kunst der Form das eigentlich nicht Darstellbare doch zur Sprache bringt: Das zeigt Arno Camenisch mit seinem neuen Buch. Wer ihn Kleinmeister schilt, hat seinen Rang in der Schweizer Literatur nicht begriffen.
Arno Camenisch: Der Schatten über dem Dorf. Urs Engeler, Schupfart 2021. 102 S., ca. 28 Fr.
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