Corona in BelgienEin «Tsunami» hat das Land erfasst
Nirgendwo gab es so viele Corona-Tote wie in Belgien, und auch jetzt ist das Land bei der zweiten Welle hinter Tschechien trauriger Rekordhalter bei den Neuinfektionen. Was läuft schief in Belgien?
Einige sehen darin noch immer den Charme des Landes. Andere einen Grund dafür, dass Belgien in der Corona-Krise gerade wieder negative Schlagzeilen macht. Die ganze Nacht über hat der nationale Krisenstab in Brüssel angesichts explodierender Infektionen neue Massnahmen abgewogen. Die neuen Restriktionen musste Belgiens föderaler Regierungschef Alexander De Croo am Morgen aber gemeinsam mit den fünf anderen Ministerpräsidenten der Regionen und Sprachgemeinschaften verkünden.
Die Botschaft komplex, ganz entsprechend den verschachtelten Kompetenzen in Belgien. Klar verständliche Kommunikation sieht anders aus. Den neuen Lockdown, den viele erwartet haben, gibt es vorerst nicht. Stattdessen wird beim Sport, bei der Kultur und bei den Hochschulen die Schraube etwas angezogen. Kaum war die Präsentation vorbei, kritisierten die ersten Experten die Massnahmen als unzureichend. Dabei hatte der föderale Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke selber schon vor Tagen vor einem bevorstehenden «Tsunami» gewarnt. Nun ist der «Tsunami» da, und es stellt sich die Frage, weshalb Belgien wieder im Fokus steht und so schlecht gerüstet ist.
Lockdown leichtfertig zurückgefahren
Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass zwischen Bundesebene, Regionen und Sprachgemeinschaften neun Minister für Gesundheitsfragen zuständig sind. Oder mit der dichten Besiedlung des Landes. Belgien liege im Herzen Europas, geprägt durch engen Austausch mit den Nachbarregionen, argumentieren Experten und Politiker gerne. Andere führen an, die Regierung habe nach dem ersten Lockdown die Einschränkungen zu leichtfertig zurückgefahren und den Eindruck vermittelt, es sei jetzt alles überstanden.
Im Frühling war die Hafenstadt Antwerpen besonders betroffen. Jetzt vor allem Brüssel und dort besonders die ärmeren Gemeinden Molenbeek, Anderlecht oder Saint Josse, wo Einwandererfamilien in engen Wohnungen leben. Zwei Drittel der Spitalbetten seien von Patienten mit Migrationshintergrund belegt, schreibt die Brüsseler Stadtzeitung «Bruzz». Doch das Virus ist längst überall. Wallonien sei die neue Lombardei, vergleicht die flämische Tageszeitung «De Standaard» die Situation mit der katastrophalen Lage vom Frühjahr in Norditalien. Bilder wie damals aus Bergamo gibt es in Belgien zwar nicht, aber die Lage hat sich weiter verschärft. Das Land liegt bei den Neuinfektionen mit derzeit knapp über 1000 täglichen Fällen auf 100’000 Einwohner hinter Tschechien und noch vor den Niederlanden an der Spitze. Schon bei der ersten Welle im Frühling hatte Belgien mit 10’000 Corona-Toten, ein Grossteil in Alters- und Pflegeheimen, einen traurigen Rekord erzielt. Jetzt warnen Spitäler wieder davor, bald an Kapazitätsgrenzen zu gelangen. Auch Aussenministerin Sophie Wilmès hat es erwischt, sie liegt auf der Intensivstation. Die Testzentren sind bereits überlastet, weshalb neu nur noch getestet wird, wer Symptome hat.
Kleinteilige Massnahmen
Da wirken die kleinteiligen Massnahmen merkwürdig zurückhaltend. Ab sofort dürfen sportliche Wettkämpfe, ob Amateure oder Profis, nur noch ohne Publikum stattfinden. Kulturelle oder religiöse Events werden je nach Platzverhältnissen auf 40 bis maximal 200 Personen beschränkt. Die Plätze in den Auditorien an den Hochschulen dürfen zu höchstens 20 Prozent belegt sein. Zoos dürfen zwar offen bleiben, müssen aber etwa die geschlossenen Räume mit den Aquarien zusperren. Schon länger zu sind Cafés, Bars und Restaurants.
Auf mehr konnte man sich zwischen der Bundesregierung, den drei Regionen und drei Sprachgemeinschaften dem Vernehmen nach nicht einigen. Die einen sind für Ausgangssperren zuständig, eine andere Ebene für die Spitäler, die Sprachgemeinschaften für die Schulen. Diese sollen nun offenbar so lange wie möglich offen bleiben, wenn jetzt auch die bevorstehenden Herbstferien um eine Woche verlängert werden. Keine Regel und kein Gesetz könne das Virus schlagen, sagte Premier Alexander De Croo: «Wir müssen ein starkes Team von elf Millionen Belgiern werden, um es zu schlagen.» Es hänge jetzt vom Verhalten jedes Einzelnen ab.
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