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Ein Tag im Leben einer «Schwester in der Welt»
«Aus Solidarität mit all jenen, die einsam sind, lebe ich die Einsamkeit»

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Meinen Tag starte ich um 6 Uhr, indem ich für zwei Stunden in die Stille – in die Kontemplation – gehe. So gebe ich meinem Tag eine Ausrichtung. Zuerst bete ich Psalmen, also Gebete aus dem Alten Testament.

Danach nehme ich einen Abschnitt aus dem Evangelium, den ich über mehrere Wochen immer wieder meditiere. Dann werde ich immer stiller und bin einfach da – ohne Worte, ohne Gedanken. Die Kontemplation ist mein Fundament.

Vor sechsundzwanzig Jahren habe ich damit angefangen. Damals war ich in Russland in der humanitären Hilfe tätig. Die Schwestern dort praktizieren jeden Tag während drei Stunden das stille Gebet.

Zuerst dachte ich: Wie hält man das aus? Aber dann fand ich in jener Stille einen anderen Zugang zu mir, zu meinen Mitmenschen und zu Gott. Als «Schwester in der Welt» lebe ich allein. Ich habe keine Gemeinschaft, die den Rhythmus des Gebets vorgibt. Ich muss also aus eigener Motivation ins Gebet gehen.

Auf der ganzen Welt gibt es fünftausend Schwestern, die wie ich leben. In der Schweiz gibt es rund sechzig. Das ist die älteste Form, wie Frauen als Schwestern gelebt haben. Seit dem 2. Jahrhundert wird diese Lebensform praktiziert. Der von der katholischen Kirche anerkannte Stand nennt sich «Geweihte Jungfrauen» – tönt alt, aber die Lebensform ist überhaupt nicht veraltet.

Unsere Aufgabe ist es, mit den Menschen, die aus verschiedenen Gründen an die inneren und äusseren Ränder geraten sind, ein Stück Weg zu gehen. Wir leben nicht in einem Kloster, sondern mitten in der Welt mit allem, was dazugehört. Ich muss zum Beispiel auch selbst für meinen Lebensunterhalt aufkommen. Jede von uns lebt bewusst allein. Meine Gemeinschaft ist der jeweilige Mensch, der mir begegnet. Aus Solidarität mit all jenen, die einsam sind, lebe ich die Einsamkeit und halte sie aus. Ich lebe zölibatär, weil die erste Bindung für mich Gott ist.

Um 8 Uhr geht mein Arbeitstag los. Ich beantworte zuerst Mails, erledige Organisatorisches, habe Gespräche und Treffen. Um 15 Uhr öffne ich das Primero, unser Café für Freunde auf der Gasse, das ich mit meinem Verein incontro eröffnet habe. Hier können Menschen, die sonst nicht wissen, wohin sie gehen sollen, einen Kaffee, einen Kuchen und am Abend eine Mahlzeit bekommen.

Es gibt Tage, da mache ich den Dienst im Primero bis um 20 Uhr. Ich bediene die Leute, schwatze und spässle herum.

Es gibt Tage, da gehe ich um 16 Uhr auf die Gasse und übernehme die Essensausgabe. Wir verteilen dort mit meinem Team Lebensmittel und warme Mahlzeiten an Bedürftige aus der ganzen Stadt. Das Essen stammt von fünf Restaurants, einige kochen gratis für uns, andere zum Selbstkostenpreis. Unser Verein finanziert sich durch Spenden. Jeden Tag stehen etwa dreihundert Menschen Schlange. Doch nicht nur das Essen ist wichtig, sondern auch die freundschaftliche und herzliche Begegnung.

Dass ich auf der Gasse arbeite, hat mit meiner Biografie zu tun. Ich wuchs in Zürich zu Platzspitzzeiten auf. Mein Bruder landete selbst auf der Gasse. Am Morgen, als ich zur Schule ging, sah ich ihn hie und da an der Bahnhofstrasse betteln. Das hat mich geprägt. Es erwuchs daraus eine Sensibilität für Menschen, die verwundet, gescheitert und an den Rand geraten sind. Dabei bin ich nicht sehr religiös aufgewachsen. Im Religionsunterricht wurde ich regelmässig vor die Tür gestellt. Sie wollten mich deswegen zuerst eigentlich nicht einmal firmen.

Wenn ich gegen 23 Uhr dann nach Hause komme, gehe ich nochmals in die Stille. Bevor ich ins Bett gehe, schaue ich auf den Tag zurück und reflektiere. Was am Tag nicht so gut lief oder wo ich an meine Grenzen stiess, schreibe ich gerne auf. Das gibt mir Klarheit. Und dann kann ich loslassen.

Protokoll: Sascha Britsko