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Geschichte des Einhorns
Ein Horn, viele Bedeutungen

Die anhaltende Popularität des Einhorns ist erstaunlich – denn es kommt in der griechischen, römischen oder nordischen Mythologie nicht vor.
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Sein Kopf ist dunkelrot, die Augen sind blau, auf der Stirn wächst ein Horn, fast einen halben Meter lang. So beschrieb der griechische Mediziner Ktesias im vierten vorchristlichen Jahrhundert ein besonderes Wesen, das in Indien lebe. Bemerkenswert sei vor allem das Horn. Trinke man aus ihm, so werde jegliches Gift neutralisiert.

Indien hat Ktesias zwar nie besucht, trotzdem hatte sein Bericht eine solch grosse Wirkung, dass er bis ins 21. Jahrhundert nachhallt. Der Grieche beschrieb als einer der Ersten das Einhorn, das uns noch heute nicht nur in Fantasy-Sagas oder Kinderzimmern begegnet.

In seiner langen Geschichte hat das Einhorn viel Unterschiedliches symbolisiert, bevor es in seiner heutigen Gestalt in der Populärkultur landete. Wie vielfältig seine Geschichte ist, zeigt das neue Buch «Das Einhorn», verfasst von der Germanistikprofessorin Julia Weitbrecht und dem Lateinprofessor Bernd Roling.

Marco Polos Sichtung auf der Seidenstrasse

Als Fabelwesen gilt das Einhorn erst seit der frühen Neuzeit. Zuvor glaubten viele antike und mittelalterliche Autoren, dass es tatsächlich irgendwo lebe. Auch Marco Polo will es auf seinen Reisen über die legendäre Seidenstrasse gesehen haben. Dann folgte ein Lachanfall mit Symbolcharakter. Am Boden habe sich ein isländischer Gelehrter vor Lachen gewälzt, als man ihm im 17. Jahrhundert in einem dänischen Museum das Horn eines Einhorns präsentierte. Denn mit diesem Horn war der Gelehrte als Bewohner des hohen Nordens vertraut: Es war der Zahn eines Narwals.

Verwechslungen haben die Geschichte des Einhorns geprägt. «Vielleicht stand sogar ganz am Anfang seiner Existenz die Verwechslung mit einer Antilope», sagt Julia Weitbrecht, Co-Autorin des neuen Buches, «vielleicht flirrte das Licht, und der Jäger erkannte das zweite Horn nicht.» Antilopen, Nashörner, Narwale, immer wieder gibt es seit der Antike Verwirrung, ob das Einhorn nicht vielleicht eines dieser Tiere sein könnte.

Doch die Mythen, die sich um es rankten, hatten sich damals schon längst von irgendwelchen biologischen Tatsachen gelöst. Und sie waren ein grosses Geschäft. Der Handel mit Narwalzähnen florierte, man wog sie mit Gold auf beim Verkauf, manchmal mehrfach. Seit der Antike kursierten zahlreiche Geschichten von der besonderen medizinischen Wirkung dieses einen Horns.

Auch die deutsche Äbtissin Hildegard von Bingen betonte im 12. Jahrhundert dessen Heilkräfte. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts brach der Markt mit den Narwalzähnen zusammen, als es langsam auch den Menschen in Mitteleuropa dämmerte, dass die vermeintlichen Hörner keine waren. Noch heute gibt es in Deutschland Apotheken mit dem Wort Einhorn im Namen.

Es galt als aussergewöhnlich scheu und wild 

Die Einhörner stellen wir uns heute meist als anmutige weisse Pferde mit langer Mähne vor. Doch das war nicht immer so. So schrieb der römische Gelehrte Plinius, das Einhorn habe einen Hirschkopf, einen Schwanz wie ein Wildschwein und Füsse wie ein Elefant. Das Horn hatte in vielen Berichten eine schwarze Farbe.

Der Schweizer Zoologe Konrad Gessner nahm das Einhorn im 16. Jahrhundert in seine viel beachtete «Thierkunde» auf. Darin stellte er fest, trotz der vielen unterschiedlichen Beschreibungen handle es sich immer um das gleiche Tier. Er nannte es wie schon Plinius «Monocerus» in Abgrenzung zum Rhinozeros, mit dem man es nicht verwechseln dürfe.

Besonders populär war das Einhorn auch bei christlichen Autoren. Sie betonten vor allem eine Eigenschaft, die das Einhorn in zahlreichen Erzählungen auszeichnete: Es galt als aussergewöhnlich scheu und wild. Mit dieser scheuen Wildheit liess sich auch erklären, warum fast niemand das Einhorn je zu Gesicht bekam.

Fresko des Italieners Domenico Zampieri: Im Mittelalter war man überzeugt, nur eine Jungfrau könne das Einhorn zähmen. 

Eine christliche Naturkunde aus dem zweiten Jahrhundert brachte diese Wildheit dann zum ersten Mal mit einem beliebten Thema in Zusammenhang: Einfangen und zähmen könne das wilde Tier nur eine Jungfrau. Während es für Jäger mit seinem Horn eine grosse Gefahr darstelle, springe es einer Jungfrau auf den Schoss. So steht es in vielen mittelalterlichen Naturkunden.

Warum das so sein sollte, wurde nicht näher erklärt. Vielleicht habe es ursprünglich mit Fruchtbarkeitsmythen aus Asien zu tun, vermuten die Forscher. Das christliche Mittelalter stürzte sich jedenfalls mit Begeisterung auf das Thema. Schliesslich komme das Einhorn sogar in der Bibel vor, war man damals überzeugt. Das jedoch war ein Übersetzungsfehler, der sich einschlich, als Gelehrte die Bibel vom Hebräischen ins Griechische übertrugen. Trotzdem erklärte ein Papst im siebten Jahrhundert, die Zähmung des Einhorns durch eine Jungfrau sei ein Sinnbild für die jungfräuliche Empfängnis Marias und die Menschwerdung Jesu.

Die Popularität des Einhorns ist erstaunlich, wenn man es mit anderen Fabelwesen vergleicht. «Es kommt in der griechischen oder römischen Mythologie nicht vor», schreibt die englische Historikerin Juliette Wood in ihrem Buch «Fantastic Creatures in Mythology and Folklore». Und auch in mittel- oder nordeuropäischen Legenden spiele es, anders als beispielsweise Drachen oder Meerjungfrauen, keine Rolle.

«Der Mann ist das Einhorn, das sich von der Jungfrau betören lässt.»

Julia Weitbrecht, Germanistin, über das Hochmittelalter

Sehr populär war es jedoch in der höfischen Kultur des Hoch- und Spätmittelalters. «Es gab damals, ähnlich wie heute, einen eigentlich Einhorn-Hype», sagt Dorothea Lüddeckens, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Zürich. Neue Motive kamen hinzu. Die Jagd auf das Einhorn rückte in den Fokus, und die Minnesänger machten auch Liebe und Erotik in den Einhorngeschichten zum Thema.

Das wilde unbezähmbare Einhorn versinnbildlichte neu auch den Mann «als Liebenden und Liebesobjekt». So wird die Jungfrau, die das Einhorn fängt, im Hochmittelalter in manchen Geschichten als listig und skrupellos dargestellt. «Der Mann ist dann das Einhorn, das sich von der Jungfrau betören lässt», sagt Weitbrecht. Mit ihm sollten die Lesenden mitleiden.

Seit Peter S. Beagles Klassiker «Das letzte Einhorn» stellen wir es uns als anmutiges weisses Pferd vor.

Auch in den letzten Jahrzehnten hat das Einhorn wieder stark an Beliebtheit gewonnen. «Die Medienbranche und Disney spielen hier eine wichtige Rolle», sagt Lüddeckens. Schon im Disney-Klassiker «Fantasia» aus dem Jahr 1940 kommen Einhörner vor. 1968 erschien dann «Das letzte Einhorn» von US-Autor Peter S. Beagle, heute ein Klassiker der Fantasy-Literatur, der gerade in einer Neuausgabe herausgekommen ist.

Beagles Geschichte war prägend für die bildlichen Darstellungen der letzten Jahrzehnte. Das Einhorn habe die Farbe «von Schnee in einer mondhellen Nacht», heisst es bei ihm, seine Mähne fliesse «fast bis zur Mitte seines Rückens» und sei so «fein wie Federwolken». Auch in J.K. Rowlings «Harry Potter» haben die Einhörner einen Auftritt. Rowling greift alte Motive auf. Bei ihr hat das Blut des Einhorns magische Fähigkeiten, und das Tier lässt sich lieber von Frauen berühren.

Gern mit Regenbogen dargestellt

Der Fantasy-Hype der letzten Jahrzehnte hat die Popularität der Einhörner weiter befeuert. «Seit klar ist, dass das Einhorn ein Fabelwesen ist, haben sich noch mehr Möglichkeiten ergeben, Motive in es hineinzuprojizieren», sagt Weitbrecht. So kann das Einhorn heute für vieles Unterschiedliches stehen. Noch immer gilt es als Symbol der Unschuld und Reinheit.

Aber es steht auch für Vielfalt und Diversität und wird in den letzten Jahren häufig mit Regenbogen dargestellt. Seit Ende der Siebzigerjahre gilt die Regenbogen-Flagge als Symbol der LGBTQ+-Bewegung. Anders als das Einhorn kommt der Regenbogen als Symbol in verschiedenen Mythologien vor. Er ist nicht nur schön bunt, er gilt auch als Brücke zur Welt der Götter und Göttinnen.

Vielleicht ist das Einhorn genau deshalb so beliebt, weil es nie jemandem gelungen ist, eines zu fangen.

Dass das Einhorn heute meist wie ein weisses Pferd aussieht und sich viele Mädchen für Pferde begeistern, nutzte die Spielzeugindustrie. So nahm der US-Spielzeughersteller Hasbro schon in den Achtzigerjahren Einhörner in seine Erfolgsserie «My Little Pony» auf. Ganz im Stile der Achtziger dominierten die Pastellfarben, und das Sortiment mit Einhorn-Merchandising wuchs stetig.

Auch als aufblasbares Pool-Spielzeug, Emoji oder gar als Frappuccino-Geschmack kann es uns begegnen.

Ähnlich wie die Engel erlebten Einhörner auch in der Esoterikszene ein Revival. Die Einhornsymbolik bewege sich in einem «eigenartigen Spannungsfeld zwischen säkular-kindlichen und religiös-mythischen Bezügen» wie der deutsche Religionswissenschaftler Michale Blume in seinem Essay «Die Wiederkehr der Einhörner» schreibt. Auch hier kann jeder und jede in das Einhorn genau das interpretieren, das gerade seinen Wünschen entspricht.

«O dieses ist das Tier, das es nicht gibt», klagte der österreichische Dichter Rainer Maria Rilke 1923 in einem Gedicht. Doch dafür scheint das Einhorn heute im Alltag, nicht nur als Stofftier, sehr präsent. Auch als aufblasbares Pool-Spielzeug, Emoji oder gar als Frappuccino-Geschmack kann es uns begegnen. Vielleicht, so vermutete eine englische Forscherin kürzlich, ist das Einhorn genau deshalb so beliebt, weil es nie jemandem gelungen ist, eines zu fangen.

Bernd Roling, Julia Weitbrecht: Das Einhorn – Geschichte einer Faszination. Hanser, München 2023. 176 S., ca. 28 Fr.