Bob: Vor den olympischen SpielenSie kämpfen mit den Tücken der chinesischen Riesenschlange
Wieso die Olympia-Strecke psychisch befreiend wirkt, was das Outfit bedeutet, wer den Schlitten schleppt und wie ein Bubentraum wahr wird. Die vier Zürcher Bob-Cracks in Peking verraten es.
So schnell ging das noch selten. Innerhalb von zehn Minuten waren die Interviewtermine mit den vier Zürcher Bob-Cracks vereinbart. «Wir haben grad viel Zeit», tönte es unisono. Die Zürcher Pilotin Martina Fontanive, ihre Anschieberin Irina Strebel (Thalwil), Anschieber Adrian Fässler (Horgen) und Ersatzfahrerin Kim Widmer (Kloten) warteten vergangene Woche zu Hause auf den Abflug Richtung Peking. Zwar hatten sich alle vier für die Olympischen Spiele qualifiziert, doch dabei waren sie noch lange nicht.
Ein einziger positiver Corona-Test besitzt zurzeit die Kraft, die Olympia-Träume eines ganzen Teams zu zerstören. Darum schotteten sie sich bis zum 30. Januar, dem Tag der Abreise, so gut es ging ab. «Dass wir wirklich starten können, glauben wir erst, wenn wir unseren Schlitten in den olympischen Eiskanal schieben», sagt Pilotin Fontanive und formuliert damit einen Gedanken, der die ganze Bob-Delegation umtreibt. Die Olympischen Bob-Rennen finden erst in der zweiten Woche der Spiele statt (14. bis 20. Februar).
Inzwischen haben die Schweizer Bobfahrerinnen und Bobfahrer die nächste Hürde genommen und sind anfangs dieser Woche negativ getestet in China gelandet – jeder und jede mit einer ganz eigenen Vorgeschichte.
Pilotin Martina Fontanive: «So etwas findet man sonst nirgendwo.»
Martina Fontanive hätte sich für das Geld einen schmucken Mittelklassewagen kaufen können. Doch sie leistete sich im Frühling 2019 den teuersten Zweierbob, der auf dem Markt war. Nach einer wenig berauschenden Saison musste sie etwas ändern, wenn sie ihr grosses Ziel «Peking 2022» noch erreichen wollte.
Die damalige Investition hat sich gelohnt: Die 35-jährige Pilotin, die für den in Regensdorf beheimateten Zürcher Bobclub fährt, ist mit ihrem Zweierbob und Anschieberin Irina Strebel an den Olympischen Spielen dabei. Allerdings musste sie bis zuletzt um ihren Startplatz zittern. «Mein schlechter Saisonauftakt ist uns fast zum Verhängnis geworden», sagt Fontanive. Stürze, unerklärbar schlechte Zeiten, verpasste zweite Läufe, alles sei dabei gewesen. Da nur die sechs erfolgreichsten Nationen mit mehr als einem Bob im Zweier-Rennen in China starten dürfen und die derzeit schnellste Schweizer Pilotin Melanie Hasler früh gesetzt war, wäre Fontanive von dieser Regelung im Sinne der Nationenvielfalt fast ausgebremst worden. Doch dank des klaren Aufwärtstrends im Januar mit insgesamt drei Top-Ten-Plätzen in Winterberg und St. Moritz schnappten die Schweizerinnen Australien den zusätzlichen Startplatz weg.
«Freunde oder Familie umarmt habe ich seit Herbst nicht mehr.»
Dass es losgeht, realisierte Martina Fontanive, als sie vergangene Woche mit der Schweizer Bob-Delegation die offiziellen olympischen Kleider anprobieren und tags darauf ihren Bob verladen durfte. Ein richtiges Puzzle sei es gewesen, den 2.7 Meter langen und 170 Kilogramm schweren Schlitten zusammen mit den Kufenkisten und viel Werkzeug in den Container zu packen. Während das Material schon mal Richtung China abhob, blieb die Pilotin am Boden. Noch hatte sie es nicht ganz geschafft. Die verbleibende Woche bis zu ihrem Abflug schottete sie sich ab. Sie sagt: «Freunde oder Familie umarmt habe ich seit Herbst nicht mehr.»
«Zu wissen, dass nicht jeder kleiner Fehler gleich einen Sturz zur Folge hat, spart viel Energie.»
Eine Platzierung in den Top-8 erscheint Martina Fontanive realistisch, auch wenn sie bei ihrem ersten Besuch auf der Olympiabahn in Yanqing im Oktober noch «keinen Traumlauf» herunterbrachte. 1.9 Kilometer lang und 16 Kurven reich schlängelt sich der neue Eiskanal durch das Gebirge nordwestlich von Peking. Eine Bobbahn von dieser Grösse gibt es nirgends sonst auf der Welt. Auf Martina Fontanive wirkt die Strecke «psychisch befreiend», weil sie nicht so rasend schnell ist wie viele Olympiabahnen der Vergangenheit. «Zu wissen, dass nicht jeder kleine Fehler gleich einen Sturz zur Folge hat, spart viel Energie.»
«Vier saubere Läufe runterzubringen wird enorm schwierig.»
Besonders ist die Bahn aber nicht nur wegen ihrer gigantischen Ausmasse, sondern auch punkto Gefälle. Es gibt viele flache Stellen, in drei Passagen geht es sogar leicht bergauf. Geschickt langsam zu fahren, wird hier verlangt. Fehler wiegen schwerer als anderswo. Fontanive hat auf ihren Probefahrten festgestellt, dass sich einmal verlorene Zeit, kaum mehr gut machen lässt. «Zugleich hat es viele tückische Stellen. Vier saubere Läufe runterzubringen wird enorm schwierig.»
Einfacher wird es dafür, die Muskeln vor den Rennen aufzuwärmen. Für die Athletinnen und Athleten steht eine Warm-up-Arena inklusive Tartanbahn zur Verfügung. «So etwas findet man sonst nirgendwo», schwärmt Fontanive, die dem Bobsport lachend zwei negative Seiten attestiert: «Es ist immer zu kalt und man muss viel zu viel Material herumschleppen.» Gegen zusätzlichen Ballast in Form einer Medaille hätte sie auf der Heimreise freilich nichts einzuwenden.
Anschieberin Irina Strebel: «Chilbibahnen mag ich ja auch.»
Als Hürdenläuferin hat sie einst davon geträumt, als Bobfahrerin hat sie es nun geschafft: Irina Strebel ist an den Olympischen Spielen dabei. Fünf Tage nach ihrem 26. Geburtstag wird die Thalwilerin am 18. Februar den Zweierschlitten von Pilotin Martina Fontanive erstmals in einen olympischen Eiskanal schieben.
Eigentlich hat Strebel in der vergangenen Saison zu Melanie Hasler ins Team gewechselt. «Doch der Verband wollte mich als Verstärkung von Martina», erklärt sie. «Das ist voll okay für mich, wir sind ja jahrelang zusammen gefahren und ich weiss, dass es funktioniert.»
Als Jugendliche trainierte die Thalwilerin im Turnverein über 100 m Hürden. Sie besuchte eine Sportschule, startete bei «Weltklasse Zürich» im Vorprogramm. Doch mit knapp 20 Jahren merkte sie, dass es ihr in der Leichtathletik im internationalen Vergleich kaum an die Spitze reichen dürfte. Als dann die Anfrage für ein Schnuppertraining im Bobrun kam, sagte sie sich: «Wieso eigentlich nicht? Chilbibahnen mag ich ja auch.» Wer täglich mehrmals einen Schlitten im Sprintschritt anschiebt, braucht Kraft, Schnelligkeit und das perfekte Gewicht, all das konnte Strebel bieten. In der Saison 2017/18 war sie im Bob von Fontanive bereits gesetzt.
«Ich hab mir gedacht, was wir Schweizerinnen für schöne Farben tragen dürfen.»
Und jetzt sind die Spiele für die angehende Physiotherapeutin zum Greifen nah. Richtig gefreut darüber hat sie sich bei der Anprobe des olympischen Outfits. «Ich hab mir gedacht, was wir Schweizer und Schweizerinnen doch für schöne Farben tragen dürfen», erzählt sie und betont den symbolischen Wert der Kleidung: «Sie ist Ausdruck davon, was wir geschafft haben.» Strebel bedauert, dass sie ihre Vorfreude nicht wie sonst mit Familie, Freunden und dem Team teilen konnte. Auch mit den anderen Athletinnen hatte sie bis zur Abreise nur noch virtuellen Kontakt.
Anders als Pilotin Fontanive war Irina Strebel im Herbst nicht in China, für sie wird nur schon die unvergleichliche Länge der Bahn ein absolutes Novum sein. Von den anderen Athletinnen habe sie gehört, dass der olympische Bobrun nicht so viel Druck ausübe wie andere Bahnen. Einfach erklärt: «Wir werden in der Kurve nicht so stark zusammenpresst.» Für Irina Strebel ist das durchaus relevant: Denn wenn sie zusammengefaltet hinten im Bob sitzt, dann sieht sie nichts und spürt alles.
Was die Ziele in Peking betrifft, spricht die Thalwilerin nicht über Platzierungen, sondern lieber über die Erfahrung, die sie machen und geniessen möchte. Und welche Gefühle löst bei einer Athletin, die von sich sagt, sie stehe nicht gerne im Mittelpunkt, der Gedanke ans Olympia-Podest aus? Irina Strebel antwortet lachend: «Um dieses Problem kümmere ich mich, wenn es so weit ist.»
Anschieber Adrian Fässler: «Bobfahren ist mein Bubentraum.»
1988 hat Marcel Fässler im Viererbob des Glarner Piloten Ekkehard Fasser in Calgary Olympiagold gewonnen. 34 Jahre später kämpft nun sein Sohn Adrian an Olympischen Spielen um Edelmetall. Hinter Pilot Simon Friedli wird er als erster Anschieber in den Viererschlitten springen. «Bobfahren ist mein Bubentraum. Ich wollte schon immer schaffen, was dazumal meinem Vater gelungen ist», sagt der 30-jährige Horgner.
Es war der junge Zentralschweizer Pilot Timo Rohner, der Adrian Fässler 2017 in den Bob holte. Und dieser stieg effektiv quer ein. Anders als die meisten Anschieber konnte er nämlich nicht auf eine Vergangenheit als Leichtathlet bauen und musste sich seine Lauftechnik von Grund auf erarbeiten. Er habe ganz neu laufen gelernt, erklärt Fässler, der mit seinem Vater einen guten Lehrer zur Seite hatte.
«Wenn du das links und rechts so intuitiv machst wie Velofahren, hast du einen Vorteil.»
Inzwischen gehört Adrian Fässler zu den stärksten Anschiebern der Schweiz. Bewiesen hat er das zuletzt am Ausschieben Ende Dezember. 15 Schweizer Anschieber kämpften in dieser internen Ausmarchung um einen Platz in den Olympia-Bobs der selektionierten Piloten Michael Vogt und Simon Friedli. «Nach den drei Schüben hast du gewusst, wo du stehst. Das war ein richtig gutes Gefühl.» Fässler realisierte Glanzzeiten, war auf der einen Seite der zweit- auf der anderen der drittschnellste aller Anschieber und sicherte sich so einen Platz in Friedlis Viererschlitten. Dass er auf beiden Seiten des Bobs laufen kann, habe ihm in die Karten gespielt. «Wenn du das links und rechts so intuitiv machst wie Velofahren, hast du einen Vorteil, weil du flexibel einsetzbar bist.»
Sein Thema ist zuvorderst das Timing. Auf seiner Position fungiert Fässler als Bindeglied zu den weiteren Hintermännern. «Wenn ich es mit dem Einsteigen verbocke, also zu spät dran bin, wirds für die anderen schwierig.» Die Anschieber müssen gemeinsam ein aerodynamisch perfektes Gesamtpaket schnüren: Sprinten, einsteigen, aus dem Wind im Bob verschwinden, verstecken – und das alles im richtigen Moment.
«Die Chinesische Mauer durften wir nur aus dem Bus heraus betrachten.»
Wie Martina Fontanive gehörte auch Fässler zur Schweizer Delegation, die im Oktober die Olympia-Bobbahn besuchen durfte. Ihm sind ebenfalls die ungewöhnlich langen und flachen Passagen geblieben. «Es entsteht fast schon das Gefühl, man müsse aussteigen und den Bob schieben», erzählt er lachend. «Gigantisch» sei die Bahn für den Blick eines Europäers. Nur zu gern hätte er bei seinem Besuch auch Land und Leute etwas besser kennengelernt. Doch die Abschottung der Gäste war absolut. «Die Chinesische Mauer durften wir nur aus dem Bus heraus betrachten und nach fünf Minuten sind wir weiter gefahren.»
Auch jetzt, bei seinem zweiten Aufenthalt in Peking, möchte Fässler «aufsaugen, was trotz Pandemie möglich ist.» Sportlich sei ein Diplom das Ziel, alles andere Zugabe. Im Gepäck hat der LKW-Fahrer dasselbe wie sonst während der Saison, wenn er von Bahn zu Bahn tingelt: Die Playstation, auf der er zum Abschalten im Hotel Moto-GP, American Football oder Landwirtschaftssimulator spielt, und das Glücksschwein, das ihm seine Mutter geschenkt hat.
Seine Eltern werden Adrian Fässler in der Schweiz die Daumen drücken. Vater Marcel fahre wie immer in den letzten Jahrzehnten mit seinen ehemaligen Teamkameraden nach St. Moritz, um dort gemeinsam die olympischen Bobrennen zu verfolgen, erzählt der Sohn. Die Anschieber Marcel Fässler, Kurt Meier und Werner Stocker halten an der Tradition fest, auch wenn heuer mit Pilot Ekkehard Fasser erstmals einer der vier Olympiasieger von 1988 nicht dabei sein wird. Der gebürtige Glarner ist 2021 im Alter von 68 Jahren verstorben. Adrian Fässler sagt leise: «Er wird in dieser Runde schmerzlich fehlen.»
Reserveathletin Kim Widmer: «Es ist alles viel schneller gegangen, als gedacht.»
Im November 2021 in Innsbruck setzte sich Kim Widmer das erste Mal in einen Bob und raste mit 120 Stundenkilometer den Eiskanal hinunter. Drei Monate später gehört sie zum 14-köpfigen Bobteam, das die Schweiz an den Olympischen Spielen in China vertreten wird. «Es ist alles viel schneller gegangen als gedacht», sagt die 26-jährige Klotenerin schmunzelnd. Zum Glück hat die Sportphysiotherapeutin einen verständnisvollen Arbeitgeber, der sie sofort temporär freistellte.
Als Siebenkämpferin ist Kim Widmer 2013 bei den Juniorinnen Vize-Schweizermeisterin geworden, danach aber von einer Verletzung in die nächste gerasselt. Deshalb ist sie sportlich bald von einem aussichtsreichen Karriereweg abgekommen – und hat als Anschieberin nun zurück in die Bahn gefunden. «Mit meiner Lauftechnik konnte ich im Bobsport auf hohem Niveau aufbauen», sagt sie.
«Es braucht ja auch genügend Leute, die den Bob herumschleppen.»
Das Ausschieben im Dezember verlief für Kim Widmer so gut, dass sie als Reserveathletin für die Spiele aufgeboten wurde. Ihre Rolle in Peking kennt sie selbst nicht so genau. Klar ist, dass so sowohl im Bob von Martina Fontanive also auch in jenem von Melanie Hasler einspringen dürfte, sollte eine Anschieberin ausfallen. Sie werde das Team moralisch unterstützen und auch in den Bahntrainings dabei sein. «Es braucht ja auch genügend Leute, die den Bob, salopp gesagt, herumschleppen», sagt Kim Widmer gut gelaunt. Die gemeinhin undankbare Nebenrolle der Ersatzathletin wird von der Einsteigerin mit aussergewöhnlicher Begeisterung besetzt.
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