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Berner verlegt Tagebuch John F. Kennedys
«…, dass Faschismus das Richtige für Deutschland und Italien ist…»

John F. Kennedy (links) und Kirk Le Moyne «Lem» Billings während der Europareise 1937 mit ihrem Dackel «Offie».
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Der junge Mann aus gutem Hause kann es sich leisten und unternimmt die Bildungsreise mit dem eigenen Auto. Der 20-jährige Harvard-Student John F. Kennedy, Sohn einer reichen katholischen Familie aus Boston, lässt für seine Europareise ein eigenes Ford-Cabrio über den Atlantik transportieren. Zusammen mit seinem Schulfreund Lem Billings (1916–1981) unternimmt er in den Sommerferien 1937 eine zweimonatige Europareise. Einerseits gehen die beiden Freunde auf ihrer «Grand Tour» an den Strand und tummeln sich in Bars, andererseits besuchen sie von Frankreich über Italien, Österreich, Deutschland, die Niederlande und Belgien bis nach England auch zahlreiche Museen und Kathedralen. In Frankreich pilgern sie zu den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. An der spanischen Grenze hören sie vom schrecklichen Leid der Flüchtlinge des Bürgerkrieges.

Seine Reiseaufzeichnungen hat Kennedy selbst nie veröffentlicht, sie werden in der Presidential Library in Boston aufbewahrt und haben über Jahrzehnte kein öffentliches Interesse erregt. Deshalb mutet der Titel «Das geheime Tagebuch» für die nun publizierten Aufzeichnungen etwas gar reisserisch an. Die Reiseberichte Kennedys erscheinen erstmals zusammen mit denen seines Freundes Lem Billings, der zeitlebens ein enger Vertrauter war und Kennedy in den Wahlkämpfen sowie in verschiedenen Funktionen während dessen Präsidentschaft unterstützte.

«Unter Deutschen»

Der Berner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich, Professor für Komparatistik, hat das Buch herausgegeben. Warum wurden die Kennedy-Reiseberichte aus Deutschland in englischer Sprache bislang nicht veröffentlicht? Für eine Publikation gesperrt seien die Aufzeichnungen zwar nie gewesen, sagt Oliver Lubrich. «Aber man hat sich offenbar lange Zeit eher für die glamourösen Seiten von Kennedys Biografie und für die weltpolitischen Dramen seiner Präsidentschaft interessiert», vermutet Lubrich.

Als Literaturwissenschaftler beschäftigt er sich unter anderem mit den Zeugnissen internationaler Autorinnen und Autoren aus Nazideutschland. In diesem Zusammenhang stiess Lubrich auf die Aufzeichnungen von Kennedy. 2013 gab er im Aufbau-Verlag unter dem Titel «Unter Deutschen» Kennedys Eindrücke von seinen drei Deutschlandreisen im Sommer 1937, kurz vor Kriegsausbruch 1939 und nach Ende des Krieges 1945, als er als Reporter an der Konferenz von Potsdam war, heraus. Beim aktuellen Buch handle es sich jedoch nicht um eine blosse Neuauflage, betont Lubrich, sondern um einen «neu konzipierten und aktualisierten Band» zu Kennedys erster Reise durch Deutschland und Europa im Jahr 1937.

«Hitler scheint hier so beliebt zu sein wie Mussolini in Italien, wenngleich Propaganda wohl seine stärkste Waffe ist.»

John F. Kennedy

Um sich eine Meinung über die politischen Verhältnisse zu bilden, liest der junge Kennedy während der Reise das aktuelle Buch «Inside Europe» des US-Korrespondenten John Gunther und notiert in Mailand dazu: «Habe Gunther gelesen und komme zu dem Schluss, dass Faschismus das Richtige für Deutschland und Italien ist, Kommunismus für Russland und Demokratie für Amerika und England.»

Visum für Deutschland im Reisepass von John F. Kennedy, 1937.

Die Zeugnisse zeigen, wie die beiden amerikanischen Studenten den Faschismus in Italien und in Deutschland erleben. Allerdings blicken sie nur selten hinter die Fassaden der beiden totalitären Staaten. In Deutschland notiert Kennedy: «Hitler scheint hier so beliebt zu sein wie Mussolini in Italien, wenngleich Propaganda wohl seine stärkste Waffe ist.» Und sein Freund Billings ergänzt: «Man kommt nicht umhin, einen Diktator zu mögen, wenn man in seinem Land ist, da man so viel Gutes über ihn hört und nichts Schlechtes.»

Während der Fahrt entlang des Rheins ist der junge Amerikaner ganz berauscht von der Landschaft mit ihren vielen Burgen und hebt zu rassentheoretischen Überlegungen an: «Die Städte sind alle sehr reizend, was zeigt, dass die nordischen Rassen den romanischen gewiss überlegen zu sein scheinen.» Die Zeugnisse seien gerade deshalb so aufschlussreich, «weil sie spontan aufgezeichnet und anschliessend nicht mehr bearbeitet wurden», sagt Oliver Lubrich. «Dazu gehören Alltäglichkeiten und Irrtümer, aber auch politische Beobachtungen und Einsichten.»

Keine «Gentlemen»

War der spätere Anführer der «freien Welt» in jungen Jahren, möglicherweise beeinflusst von seinem Vater, ein Bewunderer Hitlers? Eine solche Schlussfolgerung wäre sicher übertrieben, auch wenn Kennedys Vater Joseph, Ende der 1930er-Jahre eine Zeit lang US-Botschafter in London, regelmässig durch antisemitische Äusserungen auffiel und vor dem Zweiten Weltkrieg NS-Deutschland alles andere als feindlich gesinnt war. Natürlich sei 1937 noch nicht absehbar gewesen, welche politische Karriere John F. Kennedy später einschlagen würde, gibt Lubrich zu bedenken. «Aber im Rückblick erkennen wir, dass er sich während seiner drei Europareisen bereits mit Fragen beschäftigte, wie sie für seine Präsidentschaft, gerade bei der Kuba-Krise 1962, von zentraler Bedeutung waren.» Indem Kennedy als junger Student auf seiner Reise 1937 versuchte, die Gründe für Hitlers Popularität zu begreifen, beschäftigte er sich mit charismatischer Führung und mit politischer Propaganda.

Bald können sich auch Leserinnen und Leser in den USA ein Bild machen von den politischen Ansichten und Einsichten des jungen Europareisenden John F. Kennedy. Das «doppelte Tagebuch» soll laut Lubrich demnächst auch im englischen Original erscheinen. Dann wird auch ein amerikanisches Publikum zur Kenntnis nehmen, dass sich das lebenslustige Duo auf seiner Reise offenbar nicht immer angemessen zu benehmen wusste. «Unter dem üblichen Gefluche und dem Hinweis, dass wir keine Gentlemen seien, verliessen wir das Hotel», notierte Kennedy bei der Abfahrt aus München.

John F. Kennedy: Das geheime Tagebuch, Europa 1937. Erstmals zusammen mit dem Reisetagebuch von Lem Billings. Herausgegeben von Oliver Lubrich, übersetzt von Carina Tessari. Verlag Das vergessene Buch, Wien 2021. 224 Seiten, mit 41 Abbildungen. 34.90 Fr.