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Interview mit ETH-Geologe
«Ein Bergsturz-Szenario können wir nicht ausschliessen »

Blick auf Brienz im Albulatal und das Bergsturzgebiet (helle Fläche) mit der «Insel» (dunklere Fläche), die sich besonders schnell bewegt.
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Herr Löw, weshalb hat sich die Gefahrenlage in Brienz jetzt so zugespitzt?

Das Gebiet im Kompartiment Insel bewegt sich seit einem halben Jahr immer schneller und hat wie beim Corona-Ausbruch eine heikle Phase erreicht: Auch bei der Pandemie steckten sich am Anfang nur wenige an, dann plötzlich kam es zu einem rasanten Anstieg. Die Geschwindigkeit des Kompartiments Insel steigt ebenfalls exponentiell. Zudem müssen wir diese Woche mit vielen Niederschlägen rechnen, welche die Geschwindigkeiten noch verstärken könnten.

Welches Abbruchszenario ist am wahrscheinlichsten?

Am wahrscheinlichsten sind viele kleinere Felsstürze mit einem Volumen von 100 bis 10’000 Kubikmeter über eine längere Zeit. Dies, weil der Teil des Hanges, der sich schneller bewegt als der Rest, intern vermutlich schon stark zerbrochen ist. Diese «Insel» stellt nicht mehr einen intakten Rutschkörper von ein bis zwei Millionen Kubikmeter Volumen dar. Dies leiten wir aus den bisherigen grossen Bewegungen über einer vermuteten unregelmässigen Gleitfläche ab.

Ist es nicht auch möglich, dass der Hang einfach ausbricht und in einem grossen Felssturz Richtung Dorf runterdonnert?

Wie oft in der Geologie sind unsere Interpretationen des geologischen Untergrundes mit Unsicherheiten behaftet. Dies trifft auch auf die «Insel» zu. Dieser Bereich kann nicht betreten werden. Das verunmöglicht Bohrungen und geophysikalische Messungen. Ein Bergsturz-Szenario können wir darum heute tatsächlich nicht ausschliessen. Genau darum musste die Evakuation des ganzen Dorfes angeordnet werden.

Gibt es Simulationen dazu?

Es gibt Simulationen der Geschwindigkeitsentwicklung. In den vergangenen Monaten bildeten diese die Beobachtungen gut ab und können darum auch für Extrapolationen in die Zukunft verwendet werden.

Wie sicher sind die Prognosen?

Die Natur weicht oft von unseren Modellen ab. Deshalb verfolgen und analysieren wir die Entwicklung mehrmals täglich. Wir könnten so Abweichungen von den Modellrechnungen schnell erkennen und entsprechend notwendige Massnahmen empfehlen.

Wie wird der Hang konkret überwacht?

Es gibt drei Überwachungs-Systeme: Da sind einerseits zwei hochauflösende Kameras, die laufend Bilder produzieren. Der daraus resultierende Zeitraffer ergibt einen guten Eindruck, wie sich der Hang bewegt. Ausserdem erreichen wir mit einem Radarsystem aus grosser Distanz eine permanente Überwachung der Geschwindigkeiten im ganzen Kompartiment Insel. Schliesslich haben wir via einen Helikopter und abgeseilte Bergführer kleine Spiegel direkt im Hang angebracht, die stündlich von einer sogenannten Totalstation automatisch eingemessen werden. Diese Messysteme haben sich schon in der Vergangenheit bewährt.

«Auch ohne Klimawandel finden solche geologischen Ereignisse wie in Brienz etwa alle 10 Jahre in der Schweiz statt.»

Haben Sie ein Beispiel?

Vor gut zehn Jahren hatten wir in der Nähe des Tessiner Dorfs Preonzo am Fuss der Alpe di Roscioro eine ähnliche Situation. Dort befindet sich heute eine grössere Industrieanlage mit über 300 Angestellten im Gefahrengebiet. Dank den Messungen des Kantons konnten die Leute rechtzeitig evakuiert werden, bevor sich die Felsmassen von der Alpe di Riscioro lösten. Auch ohne Klimawandel finden solche geologischen Ereignisse wie in Brienz etwa alle 10 Jahre in der Schweiz statt.

Gibt es noch andere Gefahren für ein Auslösen des Rutsches,
wie etwa ein Erdbeben?

Ein stärkeres Erdbeben würde tatsächlich Felsstürze und im Extremfall einen Bergsturz auslösen. Wir dürfen aber nicht unwahrscheinliche Annahmen kumulieren, dies ergäbe eine unrealistische Bewertung der Situation.

Gehen Sie davon aus, dass die Bewohnerinnen und Bewohner je wieder  in ihr Dorf zurückkehren können?

Dies ist eine schwierige Frage, die ich heute nicht beantworten kann. In ein paar Wochen ist diese Frage leichter zu beantworten. Grundsätzlich finden Rutschungen, Schuttströme und Felsstürze in Brienz seit vielen Jahrtausenden statt, mit langen Ruhepausen dazwischen. Ein Bergsturz hat nach unserem heutigen Wissen in Brienz seit der letzten Eiszeit vor 20’000 Jahren noch nie stattgefunden.

Wie gehen Sie persönlich mit der Verantwortung als wichtiger Experte um?

Die Situation in Brienz beschäftigt mich zurzeit täglich. Es ist die gemeinsame Verantwortung des Frühwarndienstes, der kantonalen Behörden und der externen Experten, die wissenschaftlichen Grundlagen und Interpretationen für die politischen Entscheidungsträger zu erarbeiten. Dieses Fachwissen muss anschliessend den Entscheidungsträgern verständlich kommuniziert werden. Solange wir diese Aufgaben gemeinsam nach bestem Wissen ausführen, kann ich persönlich gut mit dieser Verantwortung umgehen.