TV-Kritik «Tatort»Eidechsen und andere Probleme
Der piekfeine neue Münchner «Tatort» hat Klasse – und er erzählt von Klasse. Und von universaler Einsamkeit.
Bourgeoisie bei Nacht. Ein Mann tappt zu seinem XXL-Kühlschrank, die Kids im Zimmer nebenan zocken am riesigen, flimmernden Bildschirm. Und im Garten des schicken Hauses in einem Münchner Vorort startet der Rasensprenger zischend seinen Sommerjob.
Doch als die Sonne aufgeht, ist in «Lass den Mond am Himmel stehn» nichts mehr, wie es war. Eine erste Ahnung davon hat Judith Kovacic: Laura Tonke als Mutter eines 13-Jährigen, dem es stets schwerfiel, von seinen Klassenkameraden akzeptiert zu werden, kommt in diesem «Tatort» gross heraus. Da ist anfangs ihr Schwanken zwischen wachsender Panik und angestrengten Selbstberuhigungsstrategien, als der Bub am Morgen nicht da ist. Später dann die Verzweiflung, Trauer und Verwirrung, nachdem seine Leiche in der Isar gefunden worden ist und sein letztes Handysignal auf einen abgelegenen Parkplatz verweist, einen Treffpunkt für klandestine Stelldicheins im Wald. War es ein Sextäter?
Fake überall
Was ist passiert nach dem Game-Abend beim benachbarten Basti Schellenberg (stark als gefühlskalter Teen: Tim Offerhaus)? Das österreichische Drehbuchduo Stefan Hafner und Thomas Weingartner streut den Verdacht in alle Richtungen. Beim Ortstermin in der Schule riecht Kommissar Batic (Miroslav Nemec) die übliche Mischung aus «Angst, Schweiss und Liebeskummer»; und nicht nur die Aussagen vom Stiefvater des toten Buben stinken nach Lüge. Wo man hinschaut: Fake; Einzelkämpfertum, Einsamkeit.
Kalt klirrts im Kleinfamilienkosmos der Kovacics und der Schellenbergs. In der Stille brüllt das Ungesagte. Und Trost gibt es nur als eingetuppertes Stück Geburtstagstorte: Bastis Mutter bringt Freundin Judith Reste von der Party ihrer 18-jährigen Tochter vorbei. Judiths Sohn freilich wird keinen Geburtstag mehr feiern.
Grossartige Beiläufigkeiten
Regisseur Christopher Schier, auch er ein Österreicher, hat ein Händchen fürs Malen von verkühlten Szenerien und hochkochenden Emotionen. Selbst das Bild der im Wind wiegenden Kinderschaukel transportiert hier mehr Schmerz als Klischee. In langen, wortkargen Shots gelingen Schier zudem pointierte Charakterzeichnungen. Wie etwa Bastis Vater in Vivaldis «Vier Jahreszeiten» versinkt, als gebe es kein Morgen, macht klar: Auch der hat einen Knacks.
Derweil dreht sich die Natur ungerührt im ewigen Kreislauf, die Kamera lässt sie in Stillleben von Knospen, Tieren und Ästen hohnlachen. «Wir haben ein Eidechsenproblem», erklärt Bastis Mutter in Minute 18 angesichts eines der winzigen Urviecher. Diese Szene ist eine der beiläufigen Grossartigkeiten – grossartigen Beiläufigkeiten – in dem piekfeinen «Tatort», der, quasi nebenbei, auch noch eine juristische Misere in den Fokus bugsiert und ins Gespräch der Kommissare Batic und Leitmayr da und dort staubtrockenen Witz.
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