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Grossprozess gegen ‘Ndrangheta
Dunkle Herrscher im Käfig

Ein bisschen wie im Zoo: In der Hochsicherheitsaula in Lamezia Terme werden die Angeklagten in Zellen mit Gittern sitzen – wie einst in Palermo, beim Maxiprozess gegen Cosa Nostra in den 1980er-Jahren. 
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In Lamezia Terme, einer Stadt an der tyrrhenischen Küste Kalabriens, beginnt ein Grossprozess, den man vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. So unmöglich, dass nun auch darüber diskutiert wurde, ob es aus Gründen der Sicherheit nicht besser gewesen wäre, ihn zu verlegen – irgendwo in den Norden des Landes, weit weg vom direkten Einfluss der gefürchteten, örtlichen Mafia, der ‘Ndrangheta. Wie soll man wissen, wie sie auf das Verfahren gegen sie reagiert? Es ist das grösste in der Geschichte. Alles ist gross daran, auch die Hoffnung der Rechtschaffenen.

Kronzeugen von allen Kartellen wollen reden

355 mutmassliche Mafiosi und Helfer des Clans Mancuso aus Vibo Valentia sind angeklagt. 89 weitere Verdächtige haben sich mittlerweile für ein Kurzverfahren mit sicheren, aber kleineren Strafen entschieden. 913 Zeugen sind zitiert worden. 58 Kronzeugen haben zugesagt, ihr Insiderwissen zu erzählen: Es sind auch prominente Figuren dabei von der sizilianischen Cosa Nostra, solche von der neapolitanischen Camorra, von der apulischen Sacra Corona Unita, sogar der kleine Clan der Basilischi aus der Basilicata ist vertreten.

Stur im Kampf gegen die kalabrische Mafia: Nicola Gratteri, der Oberstaatsanwalt aus Catanzaro, hier in einer Aufnahme in Rom im Januar 2021.

Dass der Prozess trotzdem in Kalabrien stattfindet, ist ein erster symbolischer Sieg des italienischen Staates und jenes Mannes, der in dessen Namen die ‘Ndrangheta bekämpft: Nicola Gratteri, 62 Jahre alt, seit 2016 Oberstaatsanwalt von Catanzaro, ein Kalabreser mit sturem Kopf.

Als die Idee einer Verlegung aufkam, stellte sich Gratteri quer. Und so liess das Justizministerium im Industriegebiet von Lamezia Terme ein ehemaliges Callcenter umbauen in eine Gerichtsaula, in einen «Aula bunker». So nennen die Italiener Hochsicherheitssäle für solche Prozesse, den berühmtesten gab es in den Achtzigern in Palermo. Und wie damals, als die heldenhaften Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino die Grossbosse von Cosa Nostra und Heerscharen von Mitläufern zur Rechenschaft zerrten, spricht man auch diesmal von einem «Maxiprocesso».

Die Kopien liess er im Ausland machen – heimlich

Da hören die Parallelen aber auf. Gratteri hat sich vorgenommen, einem ganzen System und dessen Kultur den Prozess zu machen, nicht nur den Bossen. Die ‘Ndrangheta, früher lange nur die drittgrösste Organisation hinter Cosa Nostra und Camorra, entwickelte sich in den vergangenen drei Jahrzehnten über den Kokainhandel zu einem global operierenden Kartell mit einem geschätzten Jahresumsatz von mehr als 50 Milliarden Euro – zur Nummer eins im Land.

Vor Gericht stehen nun aber auch vermeintlich «Unverdächtige» aus der Zivilgesellschaft, Notare, Politiker, Treuhänder, Unternehmer, Polizisten, von denen der Ermittler annimmt, dass sie den Aufstieg der ‘Ndrangheta mit komplizenhaften Handreichungen erst ermöglicht haben: mit gefälschten Papieren etwa, mit zugeschanzten Bauaufträgen, mit Tipps auch aus den Ermittlungen.

Gratteri erzählte einmal, dass er den 13’500 Seiten langen Haftbefehl, den er bei der Verhaftung jedem einzelnen Angeklagten in voller Länge überreichen musste, im Ausland kopieren liess, heimlich, damit vor der Polizeioperation niemand Wind erhielt.

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Razzia auch in der Schweiz

Die Operation «Rinascita Scott» fand am frühen Morgen des 19. Dezember 2019 statt, einen Tag vor Plan. Die Zeitung «La Repubblica» nannte sie einen Kriegseinsatz: 3000 Carabinieri waren daran beteiligt, sie griffen alle gleichzeitig ein – in Kalabrien, aber auch in Norditalien, in der Schweiz und in Deutschland, überall da, wo der Drogenclan Mancuso seine langen Arme hingestreckt hatte.

Der Name der Operation war eine Idee Gratteris. «Rinascita» ist das italienische Wort für Wiedergeburt: Die Vibonesi sollen aufleben können, nun, da die dunklen Herrscher der Gegend gestellt sind. Und Scott steht für Sieben William Scott, so hiess ein Agent des FBI und der US-Drogenfahndungsbehörde DEA, der lange in Rom stationiert war. Er soll es gewesen sein, der Gratteri die Verbindungen zwischen Kalabrien und Kolumbien erklärt hat, die grosse Connection im Kokainhandel. Die ‘Ndrangheta beherrscht den europäischen Kokainhandel mittlerweile fast ganz allein. Scott starb 2013, der Operationsname ist eine posthume Verneigung des Mafiajägers vor seinem Mitstreiter.

«Es liegt an der Zivilgesellschaft, die Räume zu besetzen, die wir befreien.»

Nicola Gratteri, Chefermittler aus Catanzaro

Die «Aula bunker» von Lamezia Terme erinnert in Form und Ausstattung eher an das Innere eines Flugzeugs: eine weisse Röhre, 103 Meter lang, 35 breit, eher tief, an der Decke hängen alle paar Meter Bildschirme. Damit auch die Hunderten Anwälte genügend Platz finden im Saal und sich dabei nicht zu nahe kommen in diesen pandemischen Zeiten, gibt es zwischen den Stühlen einen Mindestabstand von 1,20 Meter. Die Korridore zu den 32 Toiletten sind so gelegt worden, dass sich Anwälte und Richter nicht begegnen. Und im hinteren Teil der Aula und an den Seiten gibt es Zellen für die Angeklagten, wie man sie ebenfalls spätestens seit dem Maxiprozess in Palermo kennt.

Es sind Käfige, ein bisschen wie im Zoo. Die Angeklagten sitzen darin hintereinander, zwei Stuhlreihen wurden dafür eingerichtet. Die Vorwürfe reichen von Mord und internationalem Drogenhandel über Erpressung und Wucher, Geldwäsche und Fälschung bis zu Mitgliedschaft zu einer mafiösen Organisation – die ganze Palette.

Drei Jahre soll der Prozess dauern, ungefähr. Gratteri sagte neulich, die Justiz leiste ihren Beitrag im Kampf gegen die ‘Ndrangheta. «Nun liegt es an der Zivilgesellschaft, die Räume zu besetzen, die wir befreien.» Für eine Wiedergeburt.