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Interview mit Zürcher Schauspielhaus-Chef
«Dürrenmatts Sympathien liegen klar beim alten weissen Mann»

Nicolas Stemann, Co-Intendant des Schauspielhauses, im Bühnenbild seiner Inszenierung «Der Besuch der alten Dame».
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Nicolas Stemann, Co-Intendant des Schauspielhauses Zürich, ist genesen, geimpft und getestet. Und dass das Haus, wie andere grosse Kulturinstitutionen, schon im Sommer auf die Zertifikatspflicht und die 3-G-Regel gesetzt hat, erweist sich nun als Segen. Der Saisonauftakt am Wochenende war ausverkauft, der weitere Vorverkauf brummt.

Am Freitag eröffnet der Pfauen, im Jahr von Friedrich Dürrenmatts 100. Geburtstag, mit Stemanns Inszenierung von Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame» (1956 am Pfauen uraufgeführt); die Premiere war ursprünglich für Februar geplant, Corona kam dazwischen. Wir sprachen mit Stemann über Schuld und Verantwortung, #MeToo am Theater und Konflikte am Haus.

Herr Stemann, hatten Sie in der Pandemie die Befürchtung, die Leute könnten während der Zeit ohne Theater entdecken, dass sie ganz gut ohne auskommen?

Nach dem ersten Lockdown waren wir tatsächlich ein wenig besorgt. Aber das war unbegründet, die Leute dürsteten geradezu danach, wieder ins Theater zu kommen. Ich glaube, Netflix ödet irgendwann an, der Computer macht auf Dauer nicht satt. Theater dagegen ist in jeder einzelnen Aufführung einmalig – und ein Fest.

Ein Fest?

Man erlebt es gemeinsam – und wird auch direkt adressiert, gerade bei unserem Theaterkonzept: Man ist gefordert, mit dabei zu sein. Danach kann man sich darüber austauschen, feiern. Mir persönlich hat diese Festgemeinschaft sehr gefehlt.

Inwiefern fordert uns Dürrenmatts Hit über eine alte, superreiche Frau, die rachedurstig in ihre Heimat zurückkehrt, aus der sie einst mittellos und schwanger vertrieben worden war?

Für mich ist ein Satz zentral, den der Lehrer im Stück sagt: «Auch zu uns wird einmal eine alte Dame kommen – was dann?» Wer ist die, die zu uns kommen und uns mit unserer Schuld konfrontieren wird? Es geht um Verantwortung, die man übernehmen muss – und darum, wie meisterhaft moderne Menschen es schaffen, ihre Taten von den Konsequenzen ihrer Taten zu entkoppeln. Nach dem Krieg fürchtete man sich konkret vor Überlebenden, die kommen und etwas einfordern könnten. Jetzt holt uns die Schuld in verschiedenen Bereichen ein: zum Beispiel als Nutzniesser des alten Kolonialsystems, des ökologischen Raubbaus und des Patriarchats.

Friedrich Dürrenmatt an der Uraufführung von «Der Besuch der alten Dame» in Zürich.

Das packen Sie alles ins Stück?

Auf keinen Fall! Ich bin nicht ein Regisseur, der Überschriften oder Botschaften inszeniert, ich mache kein «Kommentartheater». Wir sind sehr texttreu unterwegs, öffnen das Drama dabei aber für viele Assoziationen. Eigentlich kommen über 30 Personen vor, bei mir treten nur eine Schauspielerin und ein Schauspieler auf: Bereits diese Setzung macht die Tragikomödie abstrakter, löst sie aus ihren boulevardesken Verankerungen, stellt die Sätze mehr infrage.

Das Stück geisselt die Gier und Charakterlosigkeit der Bewohner von Güllen.

Klar – das ist sehr konkrete Kapitalismus- und Konsumkritik. In diesem Punkt ist das Stück auch heute noch interessant. Schwieriger wird es bei den Geschlechterrollen. Die alte Dame, die eine derart überzogene Rache – den Tod ihres einstigen, treulosen Geliebten – will, ist eher Monster als Mensch. Dürrenmatts Sympathien liegen klar beim alten weissen Mann, der eine Reifung durchmachen darf und Verantwortung übernimmt. Das Stück aus den Fünfzigern ist ja auch nicht als #MeToo-Kommentar geschrieben worden. Wenngleich es die Verlogenheit eines Shitstorms avant la lettre beschreibt. Doch man kann es eben auch ganz anders lesen.

«Ich gebe zu, man hat uns schon vorgeworfen, Wasser zu predigen und Wein zu trinken.»

Wie?

Legt das – zugegeben ironische – Happy End nicht auch nahe, dass Alfreds Tod die Probleme aus der Welt schafft? Wenn man es nur lässt, dann schillert dieses Drama. Und auch, wenn ich selbst als alter weisser Mann, Regisseur und Intendant quasi auf der falschen Seite stehe, gefällt mir dieser Aspekt.

Der Theaterbetrieb allgemein ist als patriarchale Struktur in Verruf gekommen, es gab diverse #MeToo-Fälle.

Benjamin von Blomberg und ich sind angetreten mit dem Willen, an den hierarchischen Machtstrukturen, an Abhängigkeiten und angstbesetztem Klima etwas zu ändern. Allerdings hätte ich nicht gedacht, wie komplex das alles ist; wir stehen immer noch am Anfang. Nett sein allein reicht nicht, auch wenn es atmosphärisch wichtig ist. Das Hierarchische steckt tief in den Knochen des Betriebs. Und ich gebe zu, man hat uns schon vorgeworfen, Wasser zu predigen und Wein zu trinken. Wir versuchen, solchen Konflikten mit einer möglichst transparenten Kommunikation zu begegnen.

Wo entstanden solche Konflikte?

Wir haben ja ein sehr diverses Team und sind ein grosser Betrieb – da kommt es immer wieder zu Missverständnissen oder zu unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Dann hilft es, jeweils nicht gleich in die Verteidigungsposition zu gehen, sondern erst mal zu versuchen, zu verstehen. Dabei ist die direkte Kommunikation hilfreich: gut zuhören und miteinander sprechen. Theater zwingt einen zum Dialog – ein Lockdown ist da ungünstig.

Wie fühlt es sich an, jetzt im umstrittenen Pfauensaal zu inszenieren?

Die Inszenierung zelebriert den leeren Saal! Ich liebe seine Aura – aber wir ringen auch mit seinen technischen Unzulänglichkeiten. Das Schöne bei der Debatte um den Saal ist, das leidenschaftliche Interesse für das Theater mitzuerleben.

Ein Faible für den alten Saal, für alte Stücke – sind Sie ein verkappter Konservativer, Herr Stemann?

Beim Inszenieren reibe ich mich in der Tat gern an Texten, die mit Tradition angereichert sind, eine lange Aufführungspraxis haben. Es braucht dafür dann aber immer beide Pole: Vergangenheit und Gegenwart. Mein Verfahren der Textsprengung von innen ist sicher nicht allen Dramen gegenüber angemessen. Aber für Brocken wie etwa auch die Texte von Elfriede Jelinek – ich habe mehrere Jelinek-Stücke uraufgeführt – ist das gut geeignet.

Sie verfassen auch selbst Stücke.

Wenn ich selbst schreibe, wie bei «Schneewittchen», «Corona-Passionsspiele» oder demnächst «König der Frösche», habe ich als Regisseur wiederum eine andere Aufgabe und auch andere Freiheiten. Zum Glück gibt es noch andere Regisseurinnen und Regisseure, die zarte Uraufführungen behutsam an die Hand nehmen.