«Orpheus» am Schauspielhaus ZürichEurydice stirbt … und stirbt
Am Schauspielhaus Zürich hat jetzt die neue Spielzeit mit Todessänger Orpheus – und Masken- sowie Zertifikatspflicht begonnen.
Es ging schnell: Maske auf, das Covid-Zertifikat und den Ausweis zeigen, einen gelben Bändel bekommen – und in die neue Saison am Schauspielhaus Zürich starten. Am Vorabend des 11. September fand in der Schiffbaubox die Eröffnung statt: mit «Orpheus», dem Mythos über den Sänger, der aus Kummer über den Tod seiner Geliebten in die Unterwelt vordrang, um sie ins Leben zurückzuführen. Und dem das beinahe gelungen wäre. Doch auf dem Weg nach draussen hatte er zu seiner Eurydice zurückgeblickt und sie so für immer verloren. Seine Klage verzauberte Mensch und Tier.
«Der Tod ist allmächtig, das ist eine gute Botschaft, die man sich vor Augen halten sollte», sagt dazu im «Orpheus»-Programmheft der US-Autor Samuel R. Delany. Er hat 1967 seinen eigene Orpheus-Variante vorgelegt, einen Sci-Fi-Roman: «The Einstein Intersection». Das Buch und das Gespräch mit Delany haben dem Abend von Moved by the Motion, der Gruppe um Hausregisseurin Wu Tsang, wesentliche Anstösse gegeben.
Da bricht am Anfang in die zarten Live-Cellotöne ein böses Keckern ein. Mit spitzen Stiefeln klackert Raphaël Geb-Loryies langhaariger Cowboy hinein in den schwarzen Kasten, zu dem die Bühne hergerichtet wurde – ein riesenhafter Sarg von innen –, und verkündet seine Killerphilosophie. Er tötet, wenn die Leute anders sind; wenn sie ihn ängstigen: Er ist Kid Death, Delanys Version von Billy the Kid. Und die Live-Querflöte schickt das unsterbliche «The Good, the Bad and the Ugly»-Motiv ins Dunkel.
Diese düstere Ouvertüre macht einer flirrenden, lichtchoreographisch aufgeladenen Erzählung Platz, in der die nonbinäre Performance-Artistin Tosh Basco in bräutlichem Weiss das Feiern wie das Fallen auf eine Weise tanzt, dass keiner wegschauen kann. Der rotgewandete Tod wird sie umschlingen, die Unterwelt wird sich – grossartig! – mitten in diesem Bühnensarg auftun: Wir alle sehen die Baumwurzeln von unten, sind Bürger des Totenreichs. Seine «Schatten» wiederum tanzen an der Decke, wo ein alles überspannender Spiegel hängt. So entstehen verwirrende Doppelungen – Eurydices zweifacher Tod wird buchstäblich Sinnbild –, fluide Realitäten, perspektivische Überraschungen.
Keine Überraschung ist, dass Wu Tsang zudem mit Projektionen und Videos arbeitet, Bilder von antiken Orpheus-Darstellungen ebenso einklinkt wie von einsamen Cowboys und ebenso einsamen Popstars. Und, versteht sich, Schnipsel aus dem Gespräch mit Delany. Die Gruppe Moved by the Motion hat ein dichtes Gewebe aus Orpheus-Motiven gewirkt und es in neue Kontexte hineingenäht – auf der Bühne umgesetzt von Tosh Basco, Patrick Belaga, Thelma Buabeng, Raphaël Geb-Loryie, Josh Johnson, Asma Maroof, Steven Sowah und Tapiwa Svosve.
Das Programmheft liefert dafür die Deutungen: Es gehe etwa um «die Beziehung zwischen Kunstschaffen und Verlust», um «die Tragödie des Blickes, der droht, festzuschreiben, was er erfasst», oder «den Mythos des (männlichen) singulären Künstlers, der sich bis heute in der Popkultur fortschreibt» – und den Moved by the Motion mit seiner interdisziplinären und kollektiven Praxis aufbrechen will.
Man dankt für diese Handreichungen. Das eigentlich Faszinierende ist aber, dass während der sechzig Minuten immer mal wieder berührende Momente gelingen, die ohne Nachschlagewerk zugänglich sind und trotzdem keine simplen Symbolismen bedienen; dass manches Bild uns kalt erwischt wie die Viper, die Eurydike in den Fuss biss. Und wie heftig uns der finale Schrei erschüttert – als das Letzte, was dem Menschen angesichts des Todes bleibt.
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