Verrückte Wende in der BundesligaDortmunds Absturz ins Tal der Tränen
Im Westfalenstadion läuft vor dem Spiel der «Triumphmarsch», aber am Ende eines dramatischen letzten Spieltags ist wieder Bayern München Meister – dank eines Tors in der 89. Minute.
Und dann das! Dieser letzte Tag in einer langen Saison, der Tag der Geschichten, die sich so nicht erfinden lassen. «Da wirst du ja verrückt», sagt Thomas Müller, der alte Mann des FC Bayern München.
Borussia Dortmund fehlt nur noch ein Sieg daheim gegen Mainz zum ersten Meistertitel seit 2012. Und doch sind es am Ende Müllers Bayern, die wieder die Schale gewinnen, zum elften Mal hintereinander, weil sie in Köln im letzten Moment noch 2:1 gewinnen und Dortmund der Ausgleich zum 2:2 im allerletzten Moment nichts mehr hilft. (Der turbulente letzte Spieltag im Ticker: Die Bayern sind Meister, Kahn und Salihamidzic müssen gehen.)
Kann ausserhalb Münchens nun jeder denken, die Bayern hätten sich den Titel diese Saison nicht verdient. Und Müller, die ehrliche Haut, hat dafür auch Verständnis, «zu chaotisch» sei diese Saison auf dem Platz gewesen und daneben auch. Am Ende gilt jedoch: Sie werden Meister, wie sie wollen, und egal wie viele Geschenke sie monatelang verteilen.
Der Spielfilm: Ein einziges Hin und Her
In Dortmund läuft Verdis «Triumphmarsch», als die Spieler der Borussia zum Einlaufen auf den Rasen kommen. Auf der Tribüne trägt Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke seinen weissen Rollkragenpullover, auch wenn das Modell für den Winter besser geeignet ist als für einen sommerlichen Tag. Aber es ist in diesem Jahr sein Glücksbringer geworden.
In Köln geht Bayern nach acht Minuten durch Kingsley Coman in Führung. Die Dortmunder geraten gleich in Rückstand und verschiessen einen Elfmeter durch Sébastien Haller, ausgerechnet durch ihn, der in diesem Jahr mit seinen Toren so viel zum Aufschwung beigetragen hat. Nach 24 Minuten liegen sie schon 0:2 zurück. Die Stimmung ist im Keller. Die Mainzer spulen 128 Kilometer ab und verdienen Anerkennung für ihren bedingungslosen Einsatz. In Köln beginnen die Bayern zu wackeln. Dass Leroy Sanés Tor kurz vor der Pause nach dem Eingreifen des VAR aberkannt wird, hilft ihnen auch nicht.
Dortmund gelingt der Anschlusstreffer durch Raphaël Guerreiro, 69 Minuten sind schon vorbei. Noch immer ist Bayern im Vorteil. Dann kommt die 81. Minute, wieder greift der VAR ein und drängt auf einen Handelfmeter für wehrhafte Kölner. Dejan Ljubicic verwertet ihn. Das 1:1 bedeutet: Jetzt liegt Dortmund wieder einen Punkt vor Bayern.
Thomas Tuchel wechselt in der 85. Minute Jamal Musiala ein, dafür holt er Leon Goretzka nach nur 14 Minuten schon wieder vom Platz. Es ist sein letzter Trumpf. Und der sticht. Köln bringt den Ball nicht aus der eigenen Platzhälfte, Musiala, dieses grossartige Talent, erzielt aus 16 Metern das herrliche 2:1. Die 89. Minute läuft bereits, Vorteil wieder Bayern. In Dortmund gelingt Niklas Süle noch der Ausgleich. Es ist ein Muster ohne Wert.
Um 17.28 Uhr liegen Bayern und Dortmund nach Punkten gleichauf, 71:71. Bayern profitiert von der besseren Tordifferenz, 54 gegenüber 39. Für Dortmund ist es der Absturz ins Tal der Tränen.
Borussia Dortmund: Diese drängende Frage
In Dortmund ist diesmal alles angerichtet fürs grosse Fest. Der Meisterumzug für den Sonntag ist geplant, Hunderttausende werden dafür erwartet. Die Bierbrauer reiben sich schon einmal die Hände. Die Stimmung ist elektrisierend vor dem Spiel, als der Mannschaftsbus zum Stadion fährt. «So etwas habe ich selten erlebt», sagt mit Mats Hummels einer, der schon viel erlebt hat. Und Sportdirektor Sebastian Kehl: «Diese Emotionen! Sie machen den Club so besonders. Die Überzeugung ist da, die Kraft wird von aussen kommen.»
Die Borussen haben sich dank eines starken 2023 in diese Position gebracht. Einen Rückstand von neun Punkten auf Bayern haben sie in einen Vorsprung von zwei Punkten verwandelt, trotz leichtfertig verspielter Siege in Stuttgart und Bochum. Die Bilanz im Heimstadion ist besonders eindrücklich: 9 Siege in 9 Spielen mit 38:10 Toren. Vom 2:1 bis zum 6:0 ist alles dabei.
Aber genau im letzten Spiel flattern die Nerven, und darum steht diese eine drängende Frage im Raum: Wieso wieder? Wieso sind sie einfach nicht fähig, von den Angeboten aus München zu profitieren? Wo sind die Leader? Eine Erklärung hat keiner zur Hand, nicht der sonst eloquente Hummels, nicht Edin Terzic, der Trainer. «Ich bitte um Verständnis, dass ich nicht die alleranalytischste Aussage machen kann», sagt Terzic. Eine Antwort ist: Dortmund fehlt genau das, was Bayern auszeichnet – das Siegergen.
Was sie alle spüren, ist nur bittere Enttäuschung und tiefe Leere. Sie fürchten die nächsten Tage und die Verarbeitung dieses Rückschlags. «Das fühlt sich alles unfair an», beschreibt es Terzic. Was sie dafür von ihren Anhängern bekommen, ist aufmunternder Applaus. So sehen stolze Verlierer aus.
Bayern München: Reinemachen – trotz allem
Die Bayern haben immer nach einem Grundsatz gelebt: Ausser dem Erfolg zählt nichts sonst! Genau deshalb sind sie zu einem gefrässigen Monster geworden, das alle in der heimischen Liga in den Schatten stellt. 2012 hatten sie letztmals eine Saison, in der sie alle Ziele verpassten: die Meisterschaft gegen Dortmund, den Cup im Final gegen Dortmund, die Champions League im «Finale dahoam» gegen Chelsea.
Der dreifache Schmerz setzte bei ihnen die Kräfte frei, die sie offenbar brauchen, um erfolgreich zu sein. Sie haben zurückgeschlagen, genau das passt zu ihnen: zurückschlagen. Und wie sie das getan haben: 11 Meisterschaften in Serie, 5 Cupsiege, 2 Champions-League-Triumphe, insgesamt 28 Titel, Club-WM und diverse Supercups eingerechnet.
Meistertitel Nummer 11 seit 2012 ist allerdings keiner, der Glanz verströmt. Zu viel ist diese Saison nicht gut gelaufen in München, zu viel Unruhe hat geherrscht, zu viel ist nach aussen gedrungen wie der Faustschlag von Sadio Mané ins Gesicht von Leroy Sané, zu hektisch war die Trennung von Julian Nagelsmann. Zu sehr hat die Führung keinen souveränen Eindruck hinterlassen.
Auch wenn im letzten Moment das triplefache Scheitern verhindert worden ist, kehrt in München keine Ruhe ein. Es gibt Konsequenzen, weil die Chefs im Aufsichtsrat eine solche Saison nicht noch mal erleben wollen. Präsident dieses Gremiums ist Herbert Hainer. Die starke Figur ist trotzdem weiterhin Uli Hoeness, der als Patriarch über sein Lebenswerk wacht.
Ausserordentlich tagen die hohen Herren am Freitag und beschliessen das grosse Reinemachen im Vorstand. Oliver Kahn als Vorsitzender und Hasan Salihamidzic als Sportverantwortlicher müssen gehen, sofort. Kahn darf in Köln nicht dabei sein. Es sei ihm vom Club untersagt worden, twittert er und berichtet vom «schlimmsten Tag seines Lebens». Ersetzt wird er vom bisherigen Finanzchef Jan-Christian Dreesen, einem Vertrauten von Hoeness. Salihamidzics Nachfolge ist offen.
Die Mängelliste der beiden ist lang, angefangen bei Kahns Führungsstil, der kalt ist und das «Mia san mia»-Gefühl ignoriert, das Hoeness so wichtig ist; und bei Salihamidzics ebenso teurer wie zweifelhafter Transferpolitik. Das ändert nichts daran, wie irritierend und befremdlich es ist, dass die Verabschiedung der beiden ein paar Minuten nach dem Gewinn der Meisterschaft verkündet wird. Das passt zum Stil dieser Bayern, oder genauer: zum fehlenden Stil.
«Statt zu feiern, haben wir das nächste politische Thema», sagt Thomas Tuchel. Auch er begreift die Vorgänge nicht mehr. Mit Kahn und Salihamidzic hat er seine Vertrauensleute verloren.
Thomas Tuchel: Alles soll besser werden
Im März war es, als die Bayern ihren Trainer über Nacht wegjagten. Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic, die beiden alten Chefs, hatten das Gefühl, mit Julian Nagelsmann seien gleich alle Ziele in Gefahr. Nichts mehr wert war ihre 2021 noch geäusserte Absicht, mit Nagelsmann eine Ära prägen zu wollen. Thomas Tuchel kam und sagte zum Einstieg am 25. März: «Die DNA ist klar definiert: Es geht ums Gewinnen.»
Er übernahm ein Kader, das Kahn als «eines der besten in Europa» bezeichnet. Aus dem vermeintlichen Gewinner ist ganz schnell ein Verlierer geworden: im Cup-Viertelfinal an Freiburg gescheitert, im Champions-League-Viertelfinal an Manchester City – und das innerhalb seiner ersten zweieinhalb Wochen.
Der 49-Jährige ist ein grossartiger Trainer, routiniert, erfolgreich in Paris und bei Chelsea. Gerade deshalb haben seine Stimmungsschwankungen in diesen Wochen erstaunt und verwundert. Einmal ist er «schockverliebt» in seine Spieler, dann fast depressiv angesichts seiner Ratlosigkeit, wie sie in eine Niederlage getaumelt sind.
Auch vor dem letzten Match in Köln hält er nicht mit seinen Empfindungen zurück. Wie sehr ihn die aktuelle Situation mit dem 2. Platz mitnehme, wird er bei Sky gefragt. «Das kotzt mich an», sagt er, «das darf man ja eigentlich am Samstagnachmittag nicht sagen.» Und er macht klar, was ab dem 13. Juli passieren wird, «egal ob mit Schale oder nicht»: «Wir werden nur mit einem Ziel arbeiten: besser Fussball zu spielen.»
Dafür braucht es neues Personal. Harry Kane, Victor Osimhen oder Julian Alvarez werden als Kandidaten gehandelt, um die Lücke im Sturmzentrum zu schliessen. Jeder von ihnen ist teuer, sehr sogar. Aber Geld ist in München schon lange kein Problem mehr. Der Tresor ist prall gefüllt. Das Eigenkapital beträgt 504 Millionen Euro.
Die Schweizer Goalies: Die Genugtuung für Sommer
Im vergangenen Dezember ging Manuel Neuer, eben erst zurück von einer enttäuschenden WM mit Deutschland, auf eine Skitour. Er stürzte und zog sich einen offenen Schien- und Wadenbeinbruch zu.
Die Bayern reagieren auf den Ausfall ihrer Nummer 1. Für 8 Millionen Euro holen sie Yann Sommer aus Mönchengladbach. Sommer geht noch so gern, das Triple lockt. Bald einmal gerät er aber in einen Strudel. Seine Befähigung, Neuers Ersatz sein zu können, wird medial laut angezweifelt. Das hinterlässt Spuren, er wirkt verunsichert, zumal er im Verein kaum Rückendeckung spürt.
In Dortmund ist dafür Gregor Kobel auf der Überholspur. Er wird schon als Goalie gehandelt, der einmal dauerhaft die Nachfolge von Neuer antreten kann. Nur einmal patzt er, dummerweise beim 2:4 in München. Der 25-Jährige verliert sein Selbstvertrauen trotzdem nicht.
Er ist mit ein Grund, dass Dortmund bis Samstag um 15.30 Uhr in der Tabelle oben steht. Er kann es nicht verhindern, dass zwei Stunden später nur Platz 2 bleibt. Sommer dagegen hat seinen Titel und damit seine Genugtuung. Er kann erhobenen Hauptes weiterziehen, wenn denn auf die neue Saison Neuer wieder da sein wird.
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