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Meinung

Leitartikel zur Neutralität
Die Zeit arbeitet für Blocher

Könnte mit seiner Neutralitätsinitiative Erfolg haben: Alt-Bundesrat Christoph Blocher in Bern an einer Mitgliederversammlung der AUNS (Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz). (2. April 2022)
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Zwei Entscheide fürs Geschichtsbuch, an ein und demselben Donnerstag. In Bern verfügte der Nationalrat, dass die Schweiz bei Verstössen gegen das Völkerrecht künftig eigenständig Sanktionen gegen fehlbare Staaten ergreifen soll. Bis jetzt kann der Bundesrat lediglich Sanktionen nachvollziehen, sofern diese von der UNO oder wichtigen Handelspartnern stammen. Ebenfalls am Donnerstag, 9. Juni, wählten die Vereinten Nationen die Schweiz in den UNO-Sicherheitsrat, das mächtigste Gremium der Weltdiplomatie. Vielleicht sind wir in den nächsten zwei Jahren unmittelbar dabei, wenn über Krieg oder Frieden entschieden wird. 

Das Schweizer Verständnis von Neutralität ändert sich dieser Tage in einer Rasanz, die schwindeln macht. Dabei fallen nicht nur die Ereignisse vom Donnerstag ins Gewicht. Angesichts des Ukraine-Kriegs stellen die Präsidenten von FDP und Mitte-Partei heute offen eine Annäherung an das Militärbündnis Nato zur Diskussion. Der Krieg ist es auch, der im Nationalrat die Mehrheiten für das scharfe Sanktionsregime hat entstehen lassen. Ob der Ständerat folgt, wird sich noch zeigen.

Die Neuausrichtung jedenfalls ist grundsätzlich zu begrüssen. Der herkömmliche Neutralitätsbegriff, heute nur noch von der SVP kultiviert, wirkt aus der Zeit gefallen. Jeden Positionsbezug vermeiden bei gleichzeitiger Pflege lukrativer Geschäftsbeziehungen mit allen Seiten: Dieses aussenpolitische Konzept wird heute von der Staatengemeinschaft nicht mehr akzeptiert. Die Schweiz hat als Teil eines Europa, das dem Völkerrecht und der Demokratie verpflichtet ist, ihren Beitrag zu leisten.

Erst die Euphorie, dann der Dämpfer

Eines aber haben die SVP und ihr Vordenker Christoph Blocher glasklar erkannt: Ob der Stimmungswandel der Elite auch das Volk erfasst hat, ist alles andere als gewiss. Bereits einmal, nach dem Mauerfall und dem Ende der Sowjetunion, war die institutionalisierte Schweizer Politik von Öffnungseuphorie ergriffen. Das Volk verpasste ihr mit dem Nein zum EWR-Beitritt 1992 einen brutalen Dämpfer. 

Nun plant Blocher eine Volksinitiative, die Neutralität nach seinem Gusto in der Verfassung verankern würde. Er könnte damit Erfolg haben. Sein letztes aussenpolitisches Volksbegehren, die Begrenzungsinitiative, ist zwar klar gescheitert. Doch das war eine im Wortsinn «gfürchige» Vorlage: Sie zielte auf die Personenfreizügigkeit mit der EU ab und hätte das ohnehin wacklige bilaterale Vertragsgefüge krachend zum Einsturz gebracht. Das wollten viele Schweizerinnen und Schweizer nicht riskieren.

Die Neutralitätsinitiative dagegen scheint niemandem wehzutun. Sie klingt eher verführerisch: Neutralität heisst schliesslich, sich aus Krieg und Konflikt herauszuhalten. Doch hätte ein Ja durchaus das Potenzial, die Schweizer Aussenpolitik nachhaltig zu lähmen. Es könnte sogar die zaghaften Versuche ersticken, nach dem Flop um das Rahmenabkommen wieder eine Gesprächsbasis mit der EU zu finden.

Und die Zeit arbeitet für Blocher. Die Schlacht in der Ukraine mag in den nächsten Monaten enden, oder sie verfestigt sich zu einem Stellungskrieg, der langsam aus den westlichen Köpfen entflieht. Die Einsicht, dass eine aktivere Teilhabe am Weltgeschehen angezeigt ist, mag dann bei vielen schwinden.

Von Cassis und Parmelin hängt viel ab

Hinzu kommt, dass das Parlament mit seinen Entscheiden ein grosses Risiko eingeht. Dem Bundesrat wird nämlich sehr viel Verantwortung übertragen: beim Ergreifen eigenständiger Sanktionen wie auch bei den Positionsbezügen im UNO-Sicherheitsrat. Speziell gefordert sind das Aussendepartement von Ignazio Cassis (FDP) und das Staatssekretariat für Wirtschaft im Departement von Guy Parmelin (SVP). Sie wirken für ihre neue Rolle nicht wirklich gut aufgestellt. Nehmen sie sie aber nicht überzeugend wahr, könnte Igelmentalität bald wieder Schweizer Mainstream werden. Um dies wirksam zu unterbinden, wäre es eigentlich nötig, die Kompetenzen und Ressourcen der genannten Einheiten in der Bundesverwaltung deutlich aufzustocken.

All das gilt es zu bedenken, soll die wichtige Diskussion um ein neues, zeitgemässes Neutralitätsverständnis fruchtbar fortgeführt werden. «Wahrscheinlich ist das heute die negativste Seite der Neutralität, nämlich, dass sie verdummt, dass sie zu angewandter Hinterwäldlerei führt», schrieb der Wiener Publizist Robert Misik vor einigen Tagen in der «Zeit». Misik zielte mit seiner Polemik auf die Politik in Österreich – doch können uns die Nachbarn im Osten durchaus Vorbild sein.

Österreich ist neutral, aber in rein militärischem Sinn. Die Landesverteidigung, heisst es in der Verfassung, habe die «Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität».

Das ist eine Formulierung, die eigentlich sogar der SVP gefallen müsste.