«Die WTO ist nicht klinisch tot»
Karl Brauner, stellvertretender Generaldirektor der WTO, äussert sich zur Krise mit den USA und zu den Prognosen für die Weltwirtschaft.
Herr Brauner, die Welthandelsorganisation WTO erlebt die schlimmste Krise ihrer Geschichte. Wie hoch veranschlagen Sie die Überlebenschance?
100 Prozent. Wir haben eine Krise im Streitschlichtungsmechanismus und dort speziell bei der zweiten Instanz. Das, was wir dort erleben, ist in der Tat ein schwerer Schlag. Aber die WTO ist weit mehr als nur ein Streitschlichtungsmechanismus.
Was meinen Sie damit konkret?
Obwohl es mittlerweile einen Wildwuchs an hier und da verhängten Zöllen gibt, findet immer noch mehr als 90 Prozent des Welthandels unter den Regeln der WTO statt. Die Mehrheit der Mitglieder honoriert ihre Verpflichtungen und hält sich an die Regeln.
Das Berufungsgericht ist nicht mehr beschlussfähig. Regiert jetzt wieder das Faustrecht?
Das ist eine weithin geäusserte Befürchtung. Sie ist naheliegend. Wenn jetzt die in erster Instanz in einem Rechtsstreit unterlegene Partei in die Berufung geht, kann sie verhindern, dass das Urteil rechtskräftig und vollstreckbar wird. Damit muss man rechnen.
Gibt es einen Ausweg aus der Krise?
Wir sehen ein intensives Bemühen einiger WTO-Mitglieder, für eine Übergangszeit ein alternatives Berufungsverfahren zu etablieren. Das ist auf der Basis von WTO-Regeln möglich. Man ist also durchaus bemüht, die zivilisatorische Errungenschaft, die der Streitbeilegungsmechanismus zweifellos darstellt, zu erhalten.
«Wir haben ein schwerwiegendes Problem bei der zweiten Instanz der Rechtsprechung.»
Die WTO wurde 1995 gegründet. Wie weit hat sie ihre Ziele erreicht?
Die WTO hat durch die Schaffung von verlässlichen Rahmenbedingungen den Unternehmen für ihren weltweiten Handel mit Gütern und Dienstleistungen Transparenz, Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit geboten, wie es vorher nicht möglich war. Was unter den herrschenden geopolitischen Bedingungen möglich war, hat die WTO erreicht. Natürlich sind wir von einer idealen Welt weit entfernt.
Wer profitiert von einer faktisch klinisch toten WTO?
Niemand. Aber die WTO ist nicht klinisch tot. Wir haben ein schwerwiegendes Problem bei der zweiten Instanz der Rechtsprechung. Im Übrigen arbeitet die Organisation unter Volldampf. Wir wollen die schädlichen Fischereisubventionen, die zur Überfischung der Weltmeere führen, begrenzen. Das ist eine Aufgabe, die wir im Rahmen der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen übernommen haben. In verschiedenen Arbeitsgruppen bemühen sich Mitglieder der WTO um Regeln für den elektronischen Handel, um Rahmenbedingungen für Investitionen und die inländischen Anforderungen an die Erbringung von Dienstleistungen.
US-Chefunterhändler Robert Lighthizer gilt als Vater der WTO-Demontage. Ist ein Gespräch mit ihm überhaupt möglich?
Der Generaldirektor der WTO, Roberto Azevedo, war gerade in Washington und hat mit Lighthizer gesprochen. Es wird weitere Gespräche geben. Auch einzelne Mitglieder der WTO berichten von Gesprächen mit Lighthizer und zeigen sich zuversichtlich.
Welche Folgen hat die aktuelle Situation für einen Kleinstaat wie die Schweiz?
Die Schweiz ist kein Kleinstaat. Wir berechnen den finanziellen Beitrag zum WTO-Haushalt nach dem Anteil am Welthandel des Mitglieds. Die Schweiz gehört bei uns zu den Top-20-Beitragszahlern. Intellektuell ist die Schweiz ein Gigant, mit dem, was sie in die Verhandlungen unter den Mitgliedern einbringt. In der aktuellen Situation leiden alle Mitglieder unter einer wachsenden Unsicherheit im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen und einseitige Massnahmen. Dies führt zur Verzögerung von Entscheidungen, zum Hinausschieben von Investitionen, zu Produktions- und Absatzeinbussen, zu Arbeitsplatz- und Einkommensverlusten. Die Prognosen für die Weltwirtschaft haben sich eingetrübt. Darunter werden wir alle leiden.
«Eigentlich könnten die USA ganz zufrieden sein mit der WTO.»
Die USA wollen kein Welthandelsgericht.
Für die USA handelt es sich um einen bescheidenen Streitschlichtungsmechanismus. Das war wohl auch die Ausgangslage bei Gründung der WTO. Andere sehen eine Entwicklung hin zu einem Welthandelsgericht und begrüssen das auch. Diese unterschiedliche Einschätzung bezüglich des Streitschlichtungsmechanismus führt zu den Wurzeln der Auseinandersetzung, die wir gerade erleben. Für die USA ist die Berufungsinstanz kein Gericht. Eigentlich könnten die USA ganz zufrieden sein mit der WTO. Erst kürzlich wurden 7,5 Milliarden Dollar Strafzölle gegen die EU zugelassen, weil diese den Flugzeughersteller Airbus illegal subventioniert haben. Die USA sind ein sehr erfolgreicher Nutzer des Streitschlichtungsmechanismus. In öffentlichen Äusserungen wird das gelegentlich übersehen. Dort, wo es um Dumping, um Subventionen geht, erreichen sie nicht immer alles, was sie sich vorstellen. Aber der Airbus-Fall zeigt doch, dass sie auch hier erfolgreich sein können.
Was unternehmen Sie, um die WTO zu retten?
Die WTO ist eine von den Mitgliedern geführte internationale Organisation. Anders als die europäische Kommission haben wir keine eigenen Initiativrechte. Trotzdem sind wir intensiv darum bemüht, das Gespräch unter den Mitgliedern aufrechtzuerhalten.
Wird die WTO in Zukunft nur noch bilateral tätig sein können?
Die WTO bleibt im Wesentlichen multilateral. Es wird aber mehr Verabredungen geben, die nicht vom Konsens aller 164 Mitglieder getragen sind. Das erleben wir gerade bei den Verhandlungen über Regelungen für den elektronischen Handel. Dort sind nicht alle Mitglieder engagiert, aber die Struktur der Verhandlungen erlaubt einen späteren Beitritt.
Wird es die WTO in fünf Jahren noch geben?
Es wird die WTO in fünf Jahren noch geben. Die Zahl der Mitglieder wird weiter gewachsen sein. Wir haben zurzeit 22 Beitrittskandidaten. Wir werden die Themen verhandeln, die für Industrie und Dienstleister von Bedeutung sind. Dabei wird man sich auf einzelne Verhandlungsgegenstände konzentrieren. Die Zeit der grossen Runden ist vorbei.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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