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Grundsatzentscheid an der Urne
Die Vergangenheit holt Nordirland ein

Hat die letzten Wahlen noch knapp gewonnen: Jeffrey Donaldson, Parteichef der loyalistisch-protestantischen DUP, bei einem Auftritt in Belfast.
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Zu Ostern machte Michelle O’Neill Wahlkampf auf einem Friedhof. In Nordirland ist das nicht gerade ungewöhnlich, so manche Grabstätte gehört hier zur politischen Folklore. Im Fall von O’Neill war der Auftritt allerdings bemerkenswert, wählte sie doch einen Ort, der für die blutige Vergangenheit ihrer Partei steht: den Milltown-Friedhof in Belfast. Dort sind die Veteranen der Irisch-Republikanischen Armee begraben, die Helden der IRA.

Am 5. Mai werden in Nordirland nicht die Kommunalparlamente gewählt wie im Rest des Vereinigten Königreichs, vielmehr wird das Regionalparlament neu bestimmt. O’Neill tritt da als Spitzenkandidatin von Sinn Fein an. Die Partei war einst der politische Arm der militanten IRA, doch an diesem Apriltag sollte die Vergangenheit keine Rolle spielen. Zumindest nicht in der Rede von O’Neill. Umringt von ihren Anhängern, die Dudelsäcke und Trommeln zur Unterstützung mitgebracht hatten, sagte sie: «Wir wollen unser Volk und unser Land vereinen.»

Vereinen, darum geht es O’Neill. Nordirland, das Teil des Vereinigten Königreichs ist, soll sich mit der Republik Irland zusammenschliessen. Wenn es nach ihr geht, noch in diesem Jahrzehnt. Aber zunächst will sie die Wahl am Donnerstag gewinnen. Ihre Chancen stehen ziemlich gut, in den Umfragen liegt Sinn Fein auf Platz eins.

Demütigung für die Loyalisten

Gewinnt Sinn Fein, wäre das eine Zäsur in der Geschichte Nordirlands. Denn damit würde erstmals eine Partei den First Minister stellen, die den republikanisch-katholischen Teil der Bevölkerung vertritt. Eine Demütigung für all jene Parteien, hinter denen der loyalistisch-protestantische Teil der Bevölkerung steht. Allen voran für die DUP, die bei der Wahl 2017 einen Sitz mehr als Sinn Fein im Regionalparlament erringen konnte – und damit gewann. Dieses Mal dürfte es wieder knapp werden. Und egal, wie es ausgeht, eines steht fest: Die Regierungsbildung wird äusserst schwierig werden. Nordirland steht vor Monaten voller Unsicherheit, womöglich auch vor Gewalt.

Die DUP hat ihren bisherigen First Minister im Februar aus der Regierung abgezogen. Wegen des Brexit-Vertrags.

Politisch wird es vor allem schwierig, weil ein Grundsatz fest im Karfreitagsabkommen von 1998 verankert ist: Gemäss dem Good Friday Agreement, das den Nordirlandkonflikt beendete, müssen sich die grösste nationalistische und die grösste unionistische Partei die Macht teilen, also wohl Sinn Fein und die DUP. Wer von beiden vorne liegt, stellt den First Minister. Doch damit beginnt schon das Problem.

Die DUP hat nämlich ihren bisherigen First Minister im Februar aus der Regierung abgezogen. Wegen des Brexit-Vertrags, den Boris Johnson mit der EU geschlossen hat. Weil der britische Premier das Vereinigte Königreich aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion gelöst hat, musste eine Lösung für Nordirland gefunden werden. In der Provinz gelten also weiter EU-Regeln, damit der Güterverkehr zwischen Nordirland und Irland nicht kontrolliert werden muss.

Dass es auf der Insel keine harte Grenze geben soll, darüber herrscht Einigkeit. Aber die von Johnson ausgehandelte Regelung bedeutet auch, dass der Güterverkehr zwischen Grossbritannien und Nordirland kontrolliert wird, schliesslich könnten Waren, die nicht EU-Standards entsprechen, über Nordirland nach Irland, also in die EU, gelangen. Für die DUP und ihre Anhänger bedeutet das nichts anderes als eine Spaltung des Vereinigten Königreichs. Denn im Grunde hat der Premier eine Grenze in der Irischen See geschaffen.

Die DUP fordert von Boris Johnson, dass das Protokoll geändert wird. Solange das nicht passiert, will sie nicht Teil der nordirischen Regierung sein. Praktisch heisst das: Die DUP dürfte sich schlichtweg weigern, ihren Spitzenkandidaten Jeffrey Donaldson als First Minister – oder je nach Wahlausgang eben als Stellvertreter – zu berufen.

Die DUP hat den Brexit-Streit zu ihrem Topthema im Wahlkampf erkoren. Donaldson sagt, das beschäftige die Menschen am meisten. Doch die Meinungsumfragen zeigen etwas anderes. Weitaus mehr als der Brexit treiben die Nordirinnen und Nordiren die Lebenshaltungskosten um. Also die Benzinpreise, die Gaspreise und die Immobilienpreise, die alle steil nach oben gehen.

Spricht vor allem über soziale Probleme: Michelle O’Neill, die Kandidatin der katholischen Partei Sinn Fein, bei einem Auftritt in Belfast. 

Genau darauf hat Sinn-Fein-Kandidatin O’Neill ihre Kampagne ausgerichtet. Sie verspricht mehr Wohnungen, mehr finanzielle Unterstützung als Antwort auf die Preissteigerungen und mehr Investitionen im Gesundheitswesen. Was den Brexit betrifft, ist Sinn Fein der Meinung, dass das Protokoll nicht so schlecht funktioniere – eine Ansicht, die die Wirtschaftsverbände in Nordirland mehrheitlich teilen. Es gibt lediglich Forderungen, einige Regeln anzupassen, aber dagegen hätte auch Brüssel nichts.

Für Johnson wäre ein Sieg von Sinn Fein ein gewaltiges Problem, das sogar noch grösser werden könnte. Denn die Partei hat beste Chancen, auch bei den Wahlen in Irland ganz vorne zu liegen und damit die Premierministerin zu stellen. Gewählt wird zwar erst 2025, aber allein die Aussicht, dass Sinn Fein in beiden Landesteilen der irischen Insel an der Spitze stehen könnte, hat London alarmiert. Damit würde die Wahrscheinlichkeit eines «border poll» steigen, den Sinn Fein anstrebt: Eine solche Volksabstimmung über die Vereinigung von Nordirland und Irland kann angesetzt werden, wenn sich eine Mehrheit dafür abzeichnet.

Nordirland wollte in der EU bleiben

Kein Wunder, dass Johnson ein Gesetz vorbereiten lässt, mit dem das Nordirland-Protokoll ausgehebelt werden könnte. Er scheint gewillt, den drohenden Zerfall des Vereinigten Königreichs um jeden Preis zu verhindern, auch wenn ein Bruch des Brexit-Vertrags zu neuem Streit mit der EU führen würde. Und auch mit Belfast, schliesslich hat die Mehrheit in Nordirland beim Brexit-Referendum 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt.

O’Neill versuchte im Wahlkampf, den Brexit und all das auszublenden, was das Land auseinandertreibt. Ihrer Meinung nach gehört die «immerwährende Mehrheit der Unionisten» der Vergangenheit an. Und so lautet ihre Botschaft: «Alle Identitäten werden in einem vereinten Irland ihren Platz finden.»

Bleibt die Frage, wie ihre Rede auf dem Milltown-Friedhof dazu passt, steht dieser doch sinnbildlich für das gespaltene Nordirland. Im Sinn-Fein-Lager heisst es, die Partei dürfe eben nicht diejenigen vergessen, die schon immer an ihrer Seite gestanden seien.