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Wer ist Louise Glück?
Die Überraschungs-Lyrikerin

Die amerikanische Dichterin spricht am Tag nach der Preisvergabe mit Journalistinnen. Sie wohnt in Cambridge, Massachusetts, und unterrichtet an der Yale University in New Haven, Connecticut.
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Es kann niemand behaupten, der Nobelpreis für Louise Glück sei völlig überraschend, immerhin konnte man beim Buchmacher Ladbrokes mit der sehr guten Quote von 25 zu 1 auf sie setzen. Damit war sie unter den dreissig Favoriten, noch vor Karl Ove Knausgård, Michel Houellebecq und Stephen King.

Ein wenig aber darf man sich verwundert die Augen reiben, dass es, was an der Zeit gewesen wäre, keinen Autor, keine Autorin vom afrikanischen Kontinent getroffen hat. Auch dass nach Kazuo Ishiguro vor drei Jahren erneut eine Person aus der englischsprachigen Welt ausgezeichnet wird und nach Bob Dylan vor vier Jahren wieder jemand aus den USA, erstaunt schon.

Sind am Ende also tatsächlich allein literarische Gründe für das schwedische Komitee ausschlaggebend? Ist Louise Glücks Lyrik wirklich derart hoch anzusehen, höher etwa als jene der als Favoritin gehandelten kanadischen Kollegin Anne Carson?

Die Liste ihrer Auszeichnungen und Ehrungen ist beinahe endlos.

In der deutschsprachigen Welt ist Louise Glück nahezu unbekannt. Zwei Bände hat die deutsche Autorin Ulrike Draesner 2007 und 2008 für die Sammlung Luchterhand übersetzt, «Averno» und «Wilde Iris». In den USA aber ist ihr Ansehen hoch.

Seit 1968 hat sie über ein Dutzend Gedichtbände veröffentlicht, die Liste ihrer Auszeichnungen und Ehrungen ist beinahe endlos. Darunter sind der National Book Award, der Tranströmer-Preis und der Pulitzer Prize für «Wilde Iris». Auch Poet Laureate war sie, und ihr nobelpreisverdächtiger Kollege Robert Hass nennt sie eine der «reinsten und vollendetsten Dichterinnen».

Immer wieder wird die Einfachheit ihrer Sprache hervorgehoben, ihre Fähigkeit, wie es im «Poetry Magazine» aus Chicago heisst, «so zu dichten, dass viele Menschen die Gedichte verstehen und sich zu ihnen in Beziehung setzen können».

Düstere Themen

Massenkompatible Gedichte: ein zumindest zweifelhaftes Lob. Allerdings sind Glücks Gedichte alles andere als «feel-good poems». Vielmehr gibt es, so heisst es zumindest in einer US-amerikanischen Rezension zu «Averno», «abgesehen von Sylvia Plath kaum eine Dichterin, die so deprimiert klingt».

Enttäuschung, Zurückweisung, Selbstentfremdung und Verlust gelten, auch wenn das wie ein Widerspruch in sich klingt, als klassische Glück-Themen. Damit steht sie in der Tradition der Confessional Poetry einer Anne Sexton oder eben einer Sylvia Plath. Mit Anne Carson oder der englischen Lyrikerin Alice Oswald verbindet sie die Vorliebe für Figuren der griechischen Mythologie.

So schreibt sie in «Averno» etwa die Geschichte der Persephone neu: nicht als eine Geschichte des Raubes, sondern als eine der Flucht. Persephone habe nicht mehr bei ihrer Mutter Demeter bleiben wollen und sich deswegen Hades angeschlossen. Der Dichter und Übersetzer Jürgen Brôcan konstatierte damals in der NZZ: «Es geht um Abschied und Rückkehr, Körper und Seele, fatale Mutter-Tochter-Bindungen, Zukunftsängste und Erinnerungen, Schönheit, Natur, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe. In einer einfachen, klaren, schnörkellosen Sprache, lyrisch aufgeladen, ohne Pathos, manchmal allzu schmerzhaft subjektiv, doch zeigt sich gerade hierin die Stärke von Glücks Gedichten: dass sie im gleichen Atemzug robust und verletzlich sind.»

Es gibt deutlich stärkere Dichterinnen und Dichter, die man hätte auszeichnen können.

Der Rezensent der «Süddeutschen Zeitung» allerdings war der Meinung, die Dichterin trage ihr Künstlertum mit einiger Gespreiztheit vor sich her. Auch heute würde er, der hier erneut unterzeichnet, behaupten: Es gibt deutlich stärkere Dichterinnen und Dichter, die man hätte auszeichnen können, in den USA und auch anderswo. Zudem hätte es Prosaautoren wie Annie Ernaux und David Grossman gegeben, die ebenfalls von Schmerz, Verlust und Trauer schreiben, dabei aber deutlich machen, inwiefern diese Verwundungen nicht zuletzt durch gesellschaftliche Zustände bedingt sind (und diese wiederum bedingen).

Aber vielleicht ist der Privatismus der Glück-Gedichte ja ein Zeichen der Zeit, gibt es doch unter Corona genug äussere Verunsicherungen. Mit der neuen Nobelpreisträgerin kann man sich für einen Moment wieder auf klassische Themen zurückziehen, auf das vertraute Terrain innerfamiliärer Spannungen, aufs Psychologische, auf gescheiterte Ehen und Mutter-Tochter-Probleme.

Rückbesinnung auf Poesie?

Und so könnte man sagen, dass der Preis für die so unpolitische Lyrik von Glück, die sich wenig für gesellschaftliche Strukturen interessiert, die immer auch sprachliche Strukturen sind und deswegen mitunter einer gewissen Komplexität bedürfen, dass die Entscheidung für Glück eben doch eine politische ist.

Womöglich wünscht sich die Schwedische Akademie, dass wir uns auf die Kraft der Poesie besinnen, womöglich will sie Schönheit, Vergänglichkeit, Trauer als tiefe menschliche Empfindungen gegen die Oberflächlichkeit, Würdelosigkeit, Verlogenheit dessen setzen, was wir täglich aus dem Weissen Haus zu sehen und zu hören kriegen.

Von Persephone zu den Confessional Poets: Louise Glück ist literarisch gesehen eine konservative Dichterin. In ihrem Essay «Amerikanische Originalität» beschreibt sie denn auch, warum amerikanische Literatur «neu» sein solle, aber nicht zu originell. Gegen die auf die Tradition bezogene britische Kultur beziehe sich die amerikanische auf den Mythos der Selbst-Erschaffung, schreie also eigentlich nach Distinktion des Individuellen, Einzigartigen, aber: «Trotzdem brauchen die Triumphe der Selbst-Erfindung auch Bestätigung und Bekräftigung. Sie setzen, zumindest imaginär, eine Gesellschaft oder ein Publikum voraus, das kohärent genug ist, um das Neue erkennen und anerkennen zu können. Diese neue Sache wird dann zu einer Art Kleber, der ihre vielen Vorläufer (provisorisch) zu einem Netz oder System zusammenfügt: die Fantasie oder Projektion gemeinsamer Werte.»

Die literarischen Werte, das muss man so hart sagen, wurden mit dieser Preis-Entscheidung mit Füssen getreten. Denn blättert man in dem Band «Wilde Iris», herrscht allerorten höchster Kitsch-Alarm: «depressiv ja, aber doch leidenschaftlich / dem lebendigen Baum zugetan, mein Körper / sogar in den gespaltenen Stamm geschmiegt, beinah friedvoll, im Abendregen / beinah fähig zu fühlen, / wie Saft schäumt und steigt.»
Anderen steigt da die Galle hoch.

Lesen Sie hier ein Gedicht der Nobelpreisträgerin – und die Interpretation unseres Literaturkritikers.